Alle Weihnachtserzählungen
– dachte, daß die Augen der Vögel vielleicht so glänzten, weil die Beeren, von denen sie im Winter lebten, so glänzten. Daran erinnere ich mich. Und ich bin siebenundachtzig!“
„Froh und glücklich!“ sann der andere und richtete seine dunklen Augen mit einem mitleidigen Lächeln auf die gebeugte Gestalt. „Froh und glücklich und erinnert sich gut!“
„Ja, ja“, fuhr der alte Mann fort, als er die letzten Worte auffing. „Ich erinnere mich gut an sie aus meiner Schulzeit, Jahr für Jahr, und an all die Belustigungen, die sie so mit sich brachten. Damals war ich ’n kräftiger Bursche, Mr. Redlaw, und beim Fußball war mir keiner gewachsen im Umkreis von zehn Meilen, das können Sie glauben. Wo is mein Sohn William? Beim Fußball war mir keiner gewachsen im Umkreis von zehn Meilen, William!“
„Genau das sage ich immer, Vater!“ erwiderte der Sohn prompt und mit großer Achtung. „Wenn es einen Swidger in der Familie gegeben hat, dann bist du es!“
„Du meine Güte!“ sagte der alte Mann und schüttelte den Kopf, als er wieder die Stechpalme betrachtete. „Seine Mutter – mein Sohn William is mein jüngster Sohn – und ich haben so manches Jahr zwischen allen, Jungen und Mädchen, kleinen und großen, gesessen, als die Beeren um uns rum nich halb so glänzten wie ihre strahlenden Gesichter. Viele von ihnen sind gestorben; sie is gestorben, und mein Sohn George (unser Ältester, der ihr Stolz war, mehr als die anderen) is sehr tief gesunken. Aber ich kann sie alle gesund und munter sehen, wenn ich herschaue, so wie sie in jenen Tagen waren, und ich kann sie, Gott sei Dank, in ihrer Unschuld sehen. Das is ’ne herrliche Sache für mich mit siebenundachtzig.“
Der durchdringende Blick, der mit solchem Ernst auf ihn gerichtet war, hatte allmählich den Boden gesucht.
„Als meine Lage nich so gut blieb wie vorher, weil ich nich ehrlich behandelt wurde, und ich als Hausmeister hierherkam“, sagte der alte Mann, „was mehr als fünfzig Jahre her is – wo is mein Sohn William? Vor mehr als einem halben Jahrhundert, William!“
„Das sage ich ja, Vater“, antwortete der Sohn so prompt und respektvoll wie zuvor, „genau das isses. Zwei mal null is null und zwei mal fünf zehn, und das macht hundert.“
„Es war schön zu wissen, daß einer unsrer Gründer – oder genauer gesagt“, sagte der alte Mann mit großem Stolz auf das Thema und sein Wissen darüber, „einer der gelehrten Herrn, der half, daß wir in Königin Elisabeths Zeit durch Stiftungen unterhalten wurden, denn wir wurden ja schon vor ihrer Zeit gegründet – in seinem Testament neben anderen Vermächtnissen, die er uns hinterließ, festlegte, daß wir Stechpalmen kaufen sollten, um die Fenster und Wände zu Weihnachten zu schmücken. Darin lag etwas Vertrautes und Freundliches. Als wir damals hier noch fremd waren und um die Weihnachtszeit herkamen, fanden wir an dem Bild Gefallen, das in dem Raum hing, der früher, ehe unsre zehn armen Herren ein jährliches Stipendium in Geld erhielten, unser großer Speisesaal war. – Ein ernster Mann mit Spitzbart und Halskrause und ’ner Schrift drunter, in alten englischen Buchstaben: ‚Herr, erhalte mein Gedächtnis frisch!‘ Sie wissen alles über ihn, Mr. Redlaw?“
„Ich weiß, sein Porträt hängt dort, Philip.“
„Ja, richtig, es is das zweite von rechts, über der Täfelung. Ich wollte sagen, er hat mir geholfen, daß ich mein Gedächtnis frisch erhielt; ich danke ihm; denn wenn ich jedes Jahr durch das Gebäude gehe, wie ich das jetz mache, und die kahlen Räume mit diesen Zweigen und Beeren auffrische, wird mein alter armseliger Verstand neu belebt. Ein Jahr holt ein andres zurück und dieses wieder ’n andres und die wieder andre. Schließlich kommt’s mir so vor, als ob der Geburtstag unsres Herrn auch der Geburtstag all derer war, die ich gern gehabt oder um die ich getrauert oder an denen ich mich gefreut hab. Und das sind ’ne ganze Menge, denn ich bin siebenundachtzig!“
„Froh und glücklich!“ murmelte Redlaw vor sich hin.
Das Zimmer begann ungewöhnlich dunkel zu werden.
„Sehn Sie, Sir“, fuhr der alte Philip fort, dessen gesundes, verfrorenes Gesicht rot erglüht war und dessen blaue Augen aufgeleuchtet hatten, während er sprach, „ich hab ’ne Menge zu behalten, wenn ich diese Jahreszeit feiere. Na, wo is meine stille Maus? Schwatzen is ’ne Schwäche in meinem Alter, und da muß noch das halbe Gebäude gemacht werden, falls uns nich
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