Alle Weihnachtserzählungen
ruhig, wobei sie sich unterdessen nach anderen Resten umsah, die ihrer Aufmerksamkeit entgangen sein konnten:
„Du liebe Güte, nein, Sir! Er sagte, daß er um nichts auf der Welt mit Ihnen bekannt werden oder Hilfe von Ihnen bekommen wollte, obwohl er Student in Ihrem Kurs ist. Ich habe keine Verschwiegenheit mit Ihnen vereinbart, aber ich vertraue völlig auf Ihre Ehre.“
„Warum sagte er das?“
„Das kann ich Ihnen wirklich nicht sagen, Sir“, sagte Milly nach kurzem Überlegen, „weil ich überhaupt nicht klug bin, wissen Sie. Und ich wollte mich bei ihm nützlich machen, indem ich die Dinge um ihn herum ordentlich und bequem machte und mich auf diese Weise betätigte. Aber ich weiß, er ist arm und einsam, und ich glaube, er ist auch irgendwie vernachlässigt – Wie dunkel es ist!“
Das Zimmer war immer dunkler geworden. Hinter dem Stuhl des Chemikers brauten sich ein dichtes Dunkel und Schatten zusammen.
„Was wissen Sie sonst noch von ihm?“
„Er will heiraten, wenn er es sich leisten kann“, sagte Milly, „und studiert, glaube ich, um sich seinen Lebensunterhalt verdienen zu können. Lange Zeit habe ich gesehen, wie hart er gearbeitet und wie sehr er sich selbst vernachlässigt. – Wie dunkel es ist!“
„Es is auch kälter geworden“, sagte der alte Mann und rieb sich die Hände. „Es is kalt und ungemütlich im Zimmer. Wo is mein Sohn William? William, mein Junge, zünde die Lampe an und schür das Feuer!“
Millys Stimme fuhr fort, als würde ganz leise eine ruhige Musik gespielt:
„Gestern nachmittag murmelte er in seinem gestörten Schlaf, nachdem er sich mit mir unterhalten hatte (das war mit ihr), von einem Toten und einem großen Unrecht, das nie vergessen werden könnte. Aber an ihm oder einer andren Person, weiß ich nicht. Nicht von ihm, da bin ich sicher.“
„Kurz, Mrs. William, wissen Sie – was sie nich selbst erzählen würde, Mr. Redlaw, und wenn sie bis zum übernächsten Jahr hier bleiben sollte“, sagte Mr. William und ging auf ihn zu, um ihm ins Ohr zu sprechen, „hat ihm unendlich viel Gutes getan! Mein Gott, unendlich viel Gutes! Zu Hause ist alles wie immer – mein Vater angenehm und gemütlich versorgt – kein Krümchen im ganzen Haus zu finden, und wenn Sie fünfzig Pfund dafür ausgeben würden Mrs. William offenbar nie unerreichbar –, doch Mrs. William hin und her, hin und her, hoch und runter, hoch und runter, is wie ’ne Mutter zu ihm!“
Das Zimmer wurde dunkler und kälter, und das Dunkel und die Schatten, die sich hinter dem Stuhl zusammenbrauten, wurden dichter.
„Nich genug damit, Sir, Mrs. William geht und findet an demselben Abend, als sie nach Hause kommt (na, das is nur ’n paar Stunden her) ein Geschöpf, das mehr wie ’n wildes Tier aussieht als wie ’n kleines Kind, zitternd auf der Schwelle. Was macht Mrs. William? Sie bringt’s nach Hause, reibt’s trocken und gibt ihm zu essen und behält es, bis unsre übliche Spende an Nahrung und Bekleidung am Weihnachtsmorgen gewährt wird. Wenn’s jemals ’n Feuer gespürt hat, dann hier, denn es sitzt an dem alten Kamin in der Pförtnerloge und stiert uns an, als wollte es seine gierigen Augen nie mehr schließen. Zumindest sitzt es da“, korrigierte sich Mr. William nach einigem Nachdenken, „bis es rausgesetzt wird!“
„Der Himmel erhalte sie glücklich!“ sagte der Chemiker laut, „und auch Sie, Philip, und Sie, William! Ich muß überlegen, was da zu tun ist. Ich möchte diesen Studenten sehen, ich werde Sie jetzt nicht länger aufhalten. Gute Nacht!“
„Danke, Sir, danke!“ sagte der alte Mann, „für die Maus und für meinen Sohn William und für mich selbst. Wo is mein Sohn William? William, du nimmst die Laterne und gehst als erster, durch die langen, dunklen Korridore, wie du das letztes Jahr und das Jahr davor getan hast. Haha! Ich erinnere mich, obwohl ich siebenundachtzig bin! ‚Herr, erhalte mein Gedächtnis frisch!‘ Es is ’n gutes Gebet, Mr. Redlaw, das von dem Gelehrten mit dem Spitzbart und der Halskrause; hängt als zweiter von rechts über der Täfelung in dem Raum, der früher, ehe unsre zehn armen Herren ausgezahlt wurden, unser großer Speisesaal war. ‚Herr, erhalte mein Gedächtnis frisch!‘ Es is sehr gut und fromm, Sir. Amen! Amen!“
Als sie hinausgingen und die schwere Tür schlossen, die, obwohl sie vorsichtig zurückgehalten wurde, eine Kette donnernder Echos hervorrief, als sie endlich schloß, wurde das Zimmer dunkler.
Als er
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