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Alle Weihnachtserzählungen

Alle Weihnachtserzählungen

Titel: Alle Weihnachtserzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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tun!“
    „Spötter!“ sagte der Chemiker, sprang auf und ging wütend seinem anderen Ich an die Kehle. „Warum nur habe ich immer diesen Hohn im Ohr?“
    „Hüte dich!“ rief das Gespenst mit furchtbarer Stimme. „Lege Hand an mich, und du stirbst!“
    Er blieb auf halbem Wege stehen, als hätten ihn die Worte gelähmt, und blickte es an. Es war ihm entschlüpft; es hatte seinen Arm warnend erhoben, und ein Lächeln huschte über seine unirdischen Züge, als sich seine dunkle Gestalt triumphierend aufrichtete.
    „Wenn ich mein Leid und Unrecht vergessen könnte, würde ich es tun“, wiederholte der Geist. „Wenn ich mein Leid und Unrecht vergessen könnte, würde ich es tun!“
    „Böser Geist meines Ichs“, erwiderte der heimgesuchte Mann mit leiser, zitternder Stimme, „mein Leben wird von diesem unaufhörlichen Geflüster überschattet.“
    „Es ist ein Echo“, sagte der Geist.
    „Wenn es ein Echo meiner Gedanken sein soll – was ich jetzt wirklich erkannt habe“, entgegnete der heimgesuchte Mann, „warum sollte ich deshalb gequält werden? Es ist kein egoistischer Gedanke. Ich lasse zu, daß es sich von mir löst. Alle Männer und Frauen haben ihre Sorgen und die meisten von ihnen ihre Fehler – Undankbarkeit und selbstsüchtige Eifersucht und Eigennutz –, die alle Phasen des Lebens einschließen. Wer wollte nicht seine Sorgen und Fehler vergessen?“
    „Wahrhaftig, wer wollte das nicht und um so glücklicher und besser leben?“ sagte der Geist.
    „Dieser Lauf der Jahre, an den wir uns erinnern“, fuhr Redlaw fort, „was ruft er nicht ins Gedächtnis zurück! Gibt es einen Geist, in dem er nicht Leid und Sorge wachruft? Woran erinnert sich der alte Mann, der heute abend hier war? An ein Netz aus Leid und Sorge.“
    „Aber einfache Naturen“, sagte der Geist mit seinem bösen Lächeln auf dem gläsernen Gesicht, „unaufgeklärte Menschen und gewöhnliche Geister fühlen und denken über diese Dinge nicht so wie Menschen mit feinerer Bildung und tieferen Gedanken.“
    „Versucher“, antwortete Redlaw, „dessen leeren Blick und hohle Stimme ich mehr fürchte, als Worte sagen können, und von dem eine schwache Vorahnung von größerer Furcht auf mich übergeht, während ich spreche; ich höre wieder ein Echo meines eigenen Geistes.“
    „Nimm es als einen Beweis dafür, daß ich mächtig bin“, entgegnete der Geist. „Höre, was ich anzubieten habe! Vergiß das Leid, das Unrecht und die Mühen, die du gekannt hast!“
    „Sie vergessen!“ wiederholte er.
    „Ich habe die Macht, die Erinnerung an sie auszulöschen und nur sehr schwache, undeutliche Spuren von ihnen zurückzulassen, die bald verschwinden“, entgegnete das Gespenst. „Sag, ist es schon geschehen?“
    „Bleib!“ rief der heimgesuchte Mann und ergriff mit erschrockener Geste die erhobene Hand. „Ich zittre vor Mißtrauen und Zweifel gegen dich, und die unbestimmte Furcht, die du mir einflößt, steigert sich zu einem unbeschreiblichen Entsetzen, das ich kaum ertragen kann. – Ich würde mich nicht jeglicher freundlichen Erinnerung oder jeglichen Mitgefühls berauben, das für mich oder andere gut ist. Was werde ich verlieren, wenn ich dem zustimme? Was sonst wird meinem Gedächtnis entschwinden?“
    „Kein Wissen, kein Ergebnis von Studien; nichts als die verflochtene Kette von Gefühlen und Gedankenverbindungen, die jeweils von den verbannten Erinnerungen abhängen und von ihnen genährt werden. Diese werden schwinden.“
    „Sind es so viele?“ fragte der heimgesuchte Mann, bestürzt nachdenkend.
    „Sie wären gewohnt, sich im Feuer, in der Musik, in der tiefen Stille der Nacht, in den dahinrollenden Jahren zu zeigen“, erwiderte der Geist verächtlich.
    „In nichts anderem?“
    Das Gespenst blieb still.
    Doch nachdem es eine Weile schweigend vor ihm gestanden hatte, bewegte es sich auf den Kamin zu und blieb dann stehen.
    „Entscheide dich, ehe die Gelegenheit verpaßt ist“, sagte es.
    „Einen Augenblick! Ich rufe den Himmel zum Zeugen an“, sagte der erregte Mann, „daß ich nie mein Geschlecht gehaßt habe, daß ich nie mürrisch, gleichgültig oder streng zu meiner Umgebung war. Wenn ich, da ich hier allein lebe, zu viel aus allem gemacht habe, was war und hätte sein können, und zu wenig daraus, was ist, hat das Übel, glaube ich, mich und nicht andere heimgesucht. Wenn aber Gift in meinem Körper war, sollte ich, da ich im Besitz von Gegengiften war und wußte, wie man sie einsetzt, sie nicht

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