Alle Weihnachtserzählungen
Es war seltsam zu sehen, welche Angst sie vor ihm hatte und mit welcher Scheu er es bemerkte – und doch wie scharf und genau.
„Mein Name ist Redlaw“, sagte er. „Ich komme aus dem College hier in der Nähe. Ein junger Mann, der dort Student ist, wohnt in Ihrem Haus, nicht wahr?“
„Mr. Denham?“ fragte Tetterby.
„Ja.“
Es war eine natürliche und so flüchtige Bewegung, daß man sie kaum wahrnahm, aber der kleine Mann fuhr sich, ehe er wieder sprach, mit der Hand über die Stirn und blickte sich rasch im Zimmer um, als ob er sich einer Veränderung der Atmosphäre bewußt würde. Der Chemiker, der sofort den angstvollen Blick auf ihn übertrug, den er auf die Frau gerichtet hatte, trat einen Schritt zurück, und sein Gesicht wurde blasser.
„Das Zimmer des Herrn is oben, Sir“, sagte Tetterby. „Es gibt einen günstiger gelegenen Privateingang; aber weil Sie hier reingekommen sind, sparen Sie sich’s, in die Kälte rauszugehn, wenn Sie diese kleine Treppe benutzen“ – er zeigte eine Treppe, die direkt vom Wohnzimmer abging – „und zu ihm auf diesem Wege hochgehn, falls Sie ihn besuchen wolln.“
„Ja, ich möchte ihn besuchen“, sagte der Chemiker. „Haben Sie ein Licht für mich?“
Die Wachsamkeit seines wilden Blicks und das unerklärliche Mißtrauen, das sein Gesicht verdüsterte, schienen Mr. Tetterby zu beunruhigen. Er blieb stehen und stand, ihn unverwandt anblickend, etwa eine Minute lang wie benommen oder hypnotisiert da.
Endlich sagte er: „Ich leuchte Ihnen, Sir, wenn Sie mir folgen wollen.“
„Nein“, erwiderte der Chemiker, „ich möchte nicht begleitet oder bei ihm angekündigt werden. Er erwartet mich nicht. Ich möchte lieber allein gehen. Geben Sie mir bitte das Licht, wenn Sie es entbehren können, und ich werde den Weg finden.“
Als er rasch seinen Wunsch äußerte und dem Zeitungshändler die Kerze abnahm, berührte er ihn an der Brust. Schnell zog er seine Hand zurück, fast als hätte er ihn zufällig verwundet (denn er wußte nicht, welchem Bereich seine neue Kraft innewohnte oder wie sie sich mitteilte oder wie sie von den verschiedenen Menschen aufgenommen wurde), wandte sich um und stieg die Treppe hinauf.
Aber als er oben ankam, blieb er stehen und schaute hinunter. Die Frau stand an demselben Fleck und drehte immer ihren Ring am Finger. Der Mann – den Kopf auf die Brust gesenkt – grübelte ernst und traurig vor sich hin. Die Kinder, die noch in Trauben an der Mutter hingen, starrten den Besucher schüchtern an und schmiegten sich aneinander, als sie sahen, wie er herabblickte.
„Kommt!“ sagte der Vater barsch. „Damit is genug. Geht jetz zu Bett!“
„Der Raum is auch ohne euch schon unbequem und eng“, fügte die Mutter hinzu. „Geht schlafen!“
Die ganze kleine Bande schlich sich verstört und traurig davon; der kleine Johnny und das Baby als letzte hinterher. Die Mutter, die sich verächtlich im schmutzigen Zimmer umblickte und die Reste ihrer Mahlzeit von sich abschüttelte, hielt mitten in ihrer Aufgabe, den Tisch abzudecken, inne, setzte sich hin und hing müßig und niedergeschlagen ihren Gedanken nach. Der Vater begab sich in die Kaminecke, und als er das kleine Feuer ungeduldig zusammenscharrte, beugte er sich darüber, als wollte er alles für sich in Anspruch nehmen. Sie wechselten kein Wort.
Der Chemiker, blasser als zuvor, schlich sich wie ein Dieb nach oben; er sah sich um nach der Veränderung dort unten und fürchtete sich gleichermaßen, weiterzugehen oder umzukehren.
„Was habe ich getan!“ sagte er verwirrt. „Was bin ich nur im Begriff zu tun!“
„Der Wohltäter der Menschheit zu sein“, glaubte er eine Stimme antworten zu hören.
Er sah sich um, aber es war nichts; und er ging einen Korridor entlang, der nun das Wohnzimmer seinen Blicken entzog, und richtete die Augen direkt auf den Weg vor sich.
„Es ist erst seit gestern abend“, murmelte er trübsinnig, „daß ich mich abgekapselt habe, und doch sind mir alle Dinge fremd. Ich bin mir selbst fremd. Ich bin hier wie im Traum. Welches Interesse habe ich an diesem Ort oder an jedem anderen, den ich mir ins Gedächtnis rufen kann? Ich bin ganz verwirrt!“
Vor ihm war eine Tür, und er klopfte an. Da er von drinnen aufgefordert wurde, trat er ein.
„Ist das meine gütige Pflegerin?“ fragte die Stimme. „Aber ich brauche sie nicht zu fragen. Mich besucht ja sonst niemand hier.“
Sie klang fröhlich, wenn auch matt, und lenkte seine
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