Alle Weihnachtserzählungen
ruhig; „wenn du überhaupt nich oder jemand andres geheiratet hättest?“
„Ja“, schluchzte Mrs. Tetterby. „Genau das habe ich gedacht. Haßt du mich jetzt, Dolphus?“
„Aber nein“, sagte Mr. Tetterby. „Bis jetz merk ich nichts davon.“
Mrs. Tetterby gab ihm einen dankbaren Kuß und fuhr fort: „Ich hoffe allmählich, daß du es jetz nich tun wirst, Dolphus, obwohl ich dir nich das Schlimmste erzählt habe. Ich kann gar nich daran denken, was mit mir los war. Ich weiß nich, ob ich krank oder verrückt oder was sonst war, aber ich konnte im Geiste nichts anrufen, was uns aneinandergebunden oder mich mit meinem Schicksal ausgesöhnt hätte. Alle Vergnügungen und Freuden, die wir gehabt haben, sie schienen so armselig und unbedeutend, ich haßte sie. Ich hätte auf ihnen herumtrampeln können. Und ich konnte an nichts anderes denken, als daß wir arm sind und eine Anzahl Münder zu Hause haben.“
„Nun, nun, meine Liebe“, sagte Mr. Tetterby und schüttelte ihr ermutigend die Hand, „das is doch schließlich die Wahrheit. Wir sind arm, und wir haben eine Anzahl Münder hier zu Hause.“
„Aber, ach, Dolf, Dolf!“ rief seine Frau und schlang die Arme um seinen Hals, „mein guter, freundlicher, geduldiger Kamerad, als ich ein kleines Weilchen zu Hause war – wie anders! O Dolf, mein Lieber, wie anders war es! Ich hatte das Gefühl, als ob die Erinnerungen alle auf einmal auf mich einstürzten, die mein hartes Herz weich machten und es anfüllten, bis es zersprang. All unsere Kämpfe um den Lebensunterhalt, all unsere Sorgen und Nöte, seit wir verheiratet sind, all die Zeiten der Krankheit, all die Stunden des Wachens, die wir beieinander und bei den Kindern verbracht hatten, schienen mir ins Gewissen zu reden und zu sagen, daß sie uns vereint haben und daß ich nie etwas anderes hätte sein mögen oder sein können oder je sein würde als die Frau und Mutter, die ich bin. Da wurden die wertlosen Freuden, die ich so grausam hätte mit Füßen treten können, kostbar für mich, oh, so unschätzbar und liebenswert, daß ich den Gedanken nicht ertragen konnte, wie sehr ich ihnen unrecht getan hatte; und ich sagte und sage noch hundertmal: Wie konnte ich mich nur so benehmen, Dolphus, wie konnte ich das nur übers Herz bringen!“
Die gute Frau, die von ihrer aufrichtigen Zärtlichkeit und Reue völlig hingerissen war, weinte aus tiefster Seele, als sie plötzlich mit einem Aufschrei hochfuhr und hinter ihren Mann lief. Ihr Schrei war so ängstlich, daß die Kinder aus dem Schlaf und ihren Betten hochfuhren und sich an sie klammerten. Auch widersprach ihr starrer Blick nicht ihrer Stimme, als sie auf einen blassen Mann mit schwarzem Umhang wies, der ins Zimmer getreten war.
„Seht diesen Mann an! Seht, dort! Was will er?“
„Meine Liebe“, entgegnete ihr Mann, „ich werde ihn fragen, wenn du mich gehn läßt. Was is los? Wie du zitterst!“
„Ich sah ihn auf der Straße, als ich eben draußen war. Er sah mich an und stellte sich neben mich. Ich fürchte mich vor ihm.“
„Fürchtest dich vor ihm? Warum?“
„Ich weiß nich, warum – ich – halt. Mann“; denn er ging auf den Fremden zu.
Die eine Hand hatte sie gegen die Stirn gepreßt, die andere gegen die Brust; sie war von einer besonderen Unruhe erfaßt, und ihre Augen bewegten sich gehetzt und unstet, als ob sie etwas verloren hätte.
„Bist du krank, meine Liebe?“
„Was is das, was da wieder von mir geht?“ murmelte sie mit leiser Stimme. „Was is das, was da schwindet?“
Dann antwortete sie abrupt: „Krank? Nein, ich fühle mich wohl“ und starrte geistesabwesend auf den Fußboden.
Ihr Mann, auf den sich zunächst auch etwas von ihrer Angst übertragen hatte und den ihr augenblickliches seltsames Verhalten nicht gerade beruhigte, wandte sich an den blassen Mann mit dem schwarzen Umhang, der still dastand und dessen Blicke zu Boden gerichtet waren.
„Womit können wir Ihnen dienen, Sir?“ fragte er.
„Ich fürchte, mein unbemerktes Eintreten hat Sie erschreckt“, erwiderte der Besucher, „aber Sie unterhielten sich und hörten mich nicht.“
„Meine kleine Frau sagt – vielleicht haben Sie’s gehört“, entgegnete Mr. Tetterby, „es is nich das erstemal, daß Sie sie heute abend erschreckt haben.“
„Das tut mir leid. Ich erinnere mich, daß ich sie nur für ein paar Augenblicke auf der Straße bemerkte. Ich hatte nicht die Absicht, sie zu erschrecken.“
Als er die Augen hob, schaute sie auf.
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