Alle Weihnachtserzählungen
humpelte, während es das andere um sein Bein geschlungen hatte, um es zu erwärmen, doch all diese Dinge mit demselben erschreckenden Ausdruck anstarrte, der auf seinem Gesicht wahrnehmbar war, daß Redlaw vor ihm zurückschauderte.
„Dahinein!“ sagte der Junge und zeigte wieder auf das Haus. „Ich werde warten.“
„Werden sie mich einlassen?“ fragte Redlaw.
„Sagen Sie, Sie sind ein Arzt“, antwortete er nickend. „Da gibt’s ’ne Menge Kranke.“
Als sich Redlaw auf dem Weg zur Haustür umdrehte, sah er, daß er sich durch den Staub schleppte und wie eine Ratte in den Schutz des kleinsten Bogens kroch. Er hatte kein Mitleid mit diesem Wesen, fürchtete sich aber vor ihm, und als es ihn von seiner Höhle aus betrachtete, zog er sich hastig zurück.
„Leid, Unrecht und Sorgen“, sagte der Chemiker mit schmerzlichem Bemühen, sich etwas genauer zu erinnern, „suchen zumindest diesen Ort arg heim. Wer hier Vergessenheit von solchen Dingen bringt, kann keinen Schaden anrichten!“
Mit diesen Worten stieß er die nachgebende Tür auf und ging hinein.
Auf der Treppe saß eine Frau, entweder schlafend oder verlassen, deren Kopf auf ihre Hände und Knie gesunken war. Da er nicht leicht an ihr Vorbeigehen konnte, ohne sie zu treten, und da sie keinerlei Notiz von seinem Näherkommen nahm, blieb er stehen und berührte ihre Schulter. Als sie aufschaute, zeigte sie ihm ein recht junges Gesicht, dessen vielversprechende Jugendfrische jedoch hinweggefegt war, als ob der wilde Winter wider die Natur den Frühling vernichten sollte.
Sie kümmerte sich nur wenig oder gar nicht um ihn und rückte näher zur Wand, damit er mehr Platz zum Durchgehen habe.
„Was sind Sie?“ fragte Redlaw, die Hand auf dem zerbrochenen Treppengeländer.
„Was glauben Sie denn?“ fragte sie und zeigte ihm wieder ihr Gesicht.
Er blickte auf den zerstörten Tempel hinab, erst kürzlich errichtet und so schnell verunstaltet; und etwas, was kein Mitleid war – denn die Quellen, in denen wahres Mitleid für solch ein Elend seinen Ursprung hat, waren in seiner Brust versiegt –, was aber im Moment näher daran lag als jedes Gefühl, das mit seiner sich verdunkelnden, doch noch nicht gänzlich verdunkelten Seele gekämpft hatte, das mischte einen Hauch Sanftheit in seine folgenden Worte: „Ich bin hergekommen, um Hilfe zu bringen, falls ich kann“, sagte er. „Denken Sie an irgendein Unrecht?“
Sie sah ihn mißbilligend an und lachte dann. Ihr Lachen endete in einem bebenden Seufzer, als sie den Kopf wieder sinken ließ und ihre Finger sich im Haar vergruben.
„Denken Sie an ein Unrecht?“ fragte er noch einmal.
„Ich denke an mein Leben“, sagte sie mit einem flüchtigen Blick auf ihn.
Er hatte das Empfinden, daß sie eine von vielen war und daß er die Vertreterin von Tausenden sah, als er sie hier zu seinen Füßen zusammengekauert erblickte.
„Was sind Ihre Eltern?“ fragte er.
„Ich hatte einmal ein schönes Zuhause. Mein Vater war Gärtner, weit weg von hier auf dem Lande.“
„Ist er tot?“
„Für mich ist er tot. All diese Dinge sind für mich tot. Sie als Herr wissen das nicht!“ Sie hob wieder ihre Augen und lachte ihn aus.
„Mädchen!“ sagte er streng, „ehe dieses Absterben all jener Dinge begann, wurde Ihnen da kein Unrecht getan? Bleibt nicht trotz allem, was Sie tun können, die Erinnerung an ein Unrecht hängen? Gibt es nicht immer wieder Zeiten, wo es Ihnen Schmerzen bereitet?“
An ihrer Erscheinung war so wenig Weibliches übriggeblieben, daß er erstaunt dastand, als sie jetzt in Tränen ausbrach. Aber noch erstaunter und beunruhigter war er, als er feststellte, daß sich in ihrer erwachenden Erinnerung an dieses Unrecht die ersten Spuren ihrer früheren Menschlichkeit und eingefrorenen Empfindsamkeit zu zeigen begannen.
Er trat ein wenig zurück und bemerkte dabei, daß ihre Arme blau, das Gesicht verletzt und ihre Brust gequetscht waren.
„Was für eine brutale Hand hat Sie so zugerichtet?“ fragte er.
„Meine eigene. Ich habe es selbst getan!“
„Das ist unmöglich.“
„Ich schwöre es! Er hat mich nicht angerührt. Ich habe es in einer Gefühlsaufwallung selbst getan und mich hier herabgestürzt. Er war nicht in meiner Nähe. Er hat nie Hand an mich gelegt!“
In der unschuldigen Entschiedenheit ihres Gesichts, das ihm mit dieser Unwahrheit entgegentrat, sah er genug von der letzten Verkehrung und Verzerrung des Guten, das in dieser elenden Brust übriggeblieben
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