Alle Weihnachtserzählungen
sagte er, „als ich feststellte, daß die Erinnerung dieses alten Mannes ein Gewebe aus Leid und Unrecht war, und soll ich heute abend Angst haben, daran zu rütteln? Sind die Erinnerungen, die ich vertreiben kann, für diesen sterbenden Mann so kostbar, daß ich um ihn fürchten muß? Nein, ich bleibe hier!“
Doch er blieb, ängstlich und nichtsdestoweniger wegen dieser Worte zitternd. Sich in seinem schwarzen Umhang verbergend, das Gesicht von ihnen abgewandt, als ob er sich wie ein böser Geist an diesem Ort vorkam.
„Vater!“ murmelte der kranke Mann und raffte sich ein wenig aus seiner Benommenheit auf.
„Mein Junge! Mein Sohn George!“ sagte der alte Philip.
„Du hast grade gesagt, daß ich Mutters Liebling war, vor langer Zeit. Es is was Furchtbares, jetzt zu denken: vor langer Zeit!“
„Nein, nein, nein“, erwiderte der alte Mann. „Denk dran! Sag nich, es is furchtbar. Für mich isses nich furchtbar, mein Sohn.“
„Es schneidet dir ins Herz, Vater.“ Denn die Tränen des alten Mannes fielen auf ihn.
„Ja, ja“, sagte Philip, „aber es tut mir gut. Es is ’n großes Leid, an jene Zeit zu denken, aber es tut mir gut, George. Oh, denk auch dran, denk auch dran, und dein Herz wird immer weicher. Wo is mein Sohn William? William, mein Junge, deine Mutter liebte ihn bis zuletzt von Herzen und sagte mit dem letzten Atemzug: ‚Sag ihm, ich hab ihm verziehn, hab ihn gesegnet und für ihn gebetet.‘ Das waren ihre Worte zu mir. Ich hab sie nie vergessen, und ich bin siebenundachtzig.“
„Vater!“ sagte der Mann auf dem Bett. „Ich sterbe, ich weiß es. Ich bin schon so weit, daß ich kaum sprechen kann, nich mal darüber, was meinen Geist am meisten beschäftigt. Besteht jenseits von diesem Lager eine Hoffnung für mich?“
„Es besteht Hoffnung“, erwiderte der alte Mann, „für alle, die weich gestimmt sind und Reue empfinden. Für all die besteht Hoffnung. Oh!“ rief er aus, faltete die Hände und blickte aufwärts, „erst gestern war ich dankbar, daß ich mich an diesen unglücklichen Sohn erinnern konnte, als er noch ein unschuldiges Kind war. Aber was für ein Trost isses jetz, zu denken, daß selbst Gott ihn so in Erinnerung hat!“
Redlaw hielt die Hände vors Gesicht und sank in sich zusammen wie ein Mörder.
„Ach!“ jammerte der Mann auf dem Bett schwach. „Diese Vergeudung seit damals, diese Vergeudung des Lebens seit damals!“
„Aber er war einst ein Kind“, sagte der alte Mann. „Er spielte mit Kindern. Ehe er sich abends ins Bett legte und in seinen unschuldigen Schlaf sank, sprach er an den Knien seiner armen Mutter seine Gebete. Ich hab ihn das viele Male tun sehn und gesehn, wie sie seinen Kopf an ihre Brust legte und ihn küßte. So kummervoll es für sie und für mich war, daran zu denken, als er auf die schiefe Bahn geriet und unsre Pläne und Hoffnungen für ihn zunichte waren, gab ihm das noch einen Halt bei uns, wie nichts andres ihm gegeben hätte. O Vater, der du so viel besser als alle Väter auf Erden bist! O Vater, der du dich so sehr um die Fehler deiner Kinder grämst, nimm diesen Wanderer zu dir! Nich wie er is, wie er damals war, laß ihn dich anflehn, wie er uns so oft anzuflehn schien!“
Als der alte Mann seine zitternden Hände hob, legte der Sohn, für den er das Bittgebet sprach, den sinkenden Kopf an ihn, um gestützt und getröstet zu werden, als wäre er tatsächlich das Kind, von dem er sprach.
Wann zitterte je ein Mensch, wie Redlaw zitterte, in dem folgenden Schweigen! Er wußte, es mußte sie überkommen, wußte, daß es schnell kam.
„Meine Zeit is sehr kurz, mein Atem noch kürzer“, sagte der kranke Mann, stützte sich auf den einen Arm und griff mit dem anderen in die Luft, „und ich erinnere mich, daß ich etwas auf dem Herzen habe, was den Mann betrifft, der grade hier war. Vater und William – wartet! Is da draußen wirklich etwas Schwarzes?“
„Ja, ja, wirklich“, sagte sein betagter Vater.
„Ist es ein Mann?“
„Was ich sage, George“, warf sein Bruder ein und beugte sich gütig über ihn. „Es is Mr. Redlaw.“
„Ich dachte, ich hätte von ihm geträumt. Bitte ihn, herzukommen.“
Der Chemiker, der bleicher war als der Sterbende, zeigte sich vor ihm. Er folgte seiner Handbewegung und setzte sich aufs Bett.
„Heute abend ist er aufgewühlt worden, Sir“, sagte der Kranke und legte die Hand aufs Herz, mit einem Blick, in dem all seine stumme, flehende Seelenpein wohnte, „durch den Anblick
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