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war, um von Gewissensbissen geplagt zu werden, weil er sich ihr je genähert hatte.
„Leid, Unrecht und Sorgen!“ murmelte er und wandte seinen furchtbaren Blick ab. „Alles, was sie mit dem Zustand verbindet, aus dem heraus sie gefallen ist, hat seine Wurzeln darin! In Gottes Namen, laß mich vorbeigehen.“
Aus Angst, sie wieder zu betrachten, sie zu berühren und zu denken, daß er den letzten Faden zerrissen, an dem sie von der göttlichen Gnade gehalten wurde, raffte er seinen Umhang zusammen und glitt rasch die Treppe hinauf.
Ihm gegenüber auf dem Treppenabsatz war eine Tür, die halb offenstand und aus der, als er die Treppe hinaufstieg, ein Mann mit einer Kerze in der Hand herauskam. Doch dieser Mann wich mit großer Erregung zurück, als er ihn sah, und nannte ihn wie in einer plötzlichen Eingebung laut bei seinem Namen.
In seiner Überraschung, dort erkannt zu werden, blieb er stehen und versuchte, sich an das fahle und erschreckte Gesicht zu erinnern. Er hatte keine Zeit, es zu betrachten, denn zu seinem noch größeren Erstaunen kam der alte Philip aus dem Zimmer und nahm ihn bei der Hand.
„Mr. Redlaw“, sagte der alte Mann, „das sieht Ihnen ähnlich, das sieht Ihnen ähnlich, Sir! Sie haben davon gehört und sind uns gefolgt, um jegliche Hilfe zu leisten. Ach, zu spät, zu spät!“
Mit verwirrtem Blick ließ sich Redlaw ins Zimmer führen. Dort lag ein Mann auf einem Rollbett, und William Swidger stand am Bett.
„Zu spät!“ murmelte der alte Mann und schaute dem Chemiker wehmütig ins Gesicht, und die Tränen rollten über seine Wangen.
„Das sag ich ja, Vater!“ warf sein Sohn mit leiser Stimme ein. „Genau so. So still zu sein, wie wir nur können, während er schlummert, is das einzige. Du hast recht, Vater!“
Redlaw verweilte am Bett und sah auf die Gestalt hinab, die ausgestreckt auf der Matratze lag. Es war die eines Mannes, der auf der Höhe seines Lebens sein sollte, auf den die Sonne aber wahrscheinlich nicht mehr herabscheinen würde. Die Laster seines vierzig- oder fünfzigjährigen Lebens hatten ihn so gezeichnet, daß im Vergleich zu ihrer Wirkung auf seinem Gesicht die schwere Hand der Zeit das Gesicht des alten Mannes, der bei ihm wachte, gnädig behandelt und es verschönt hatte.
„Wer ist das?“ fragte der Chemiker und blickte sich um.
„Mein Sohn George, Mr. Redlaw“, sagte der alte Mann und rang die Hände. „Mein ältester Sohn, George, der mehr als alle andern der Stolz seiner Mutter war!“
Redlaws Blicke wanderten von dem grauen Haupt des alten Mannes, als er es auf das Bett legte, zu der Person hin, die ihn erkannt und sich in der entferntesten Ecke abseits gehalten hatte. Er schien ungefähr in seinem Alter zu sein, und obwohl er keinen so hoffnungslos verfallenen und gebrochenen Mann wie diesen kannte, lag etwas in der Haltung seiner Gestalt, wie er mit dem Rücken zu ihm dastand und nun zur Tür hinausging, was ihn unbehaglich mit der Hand über die Stirn fahren ließ.
„William“, sagte er in traurigem Flüsterton, „wer ist dieser Mann?“
„Nun, sehn Sie, Sir“, erwiderte Mr. William, „das isses ja, was ich sage. Warum muß ein Mann überhaupt hingehn und spielen und so was alles und sich selbst Zentimeter für Zentimeter runterkommen lassen, bis er nich mehr tiefer sinken kann!“
„Hat er das getan?“ fragte Redlaw und schaute ihm mit derselben unbehaglichen Geste nach.
„Genau das, Sir“, entgegnete William Swidger, „wie mir erzählt wurde. Er versteht ’n bißchen was von Medizin, Sir, scheint’s. Und weil er mit meinem armen Bruder, den Sie hier sehn“, Mr. William fuhr sich mit dem Ärmel über die Augen, „nach London gereist is und über Nacht hier oben wohnt – was ich sagen wollte, sehn Sie; hier kommen manchmal seltsame Gefährten zusammen –, sah er mal kurz rein, um ihn zu pflegen, und holte uns auf seine Bitte hin. Was für ein trauriger Anblick! Aber so is das. Es bringt meinen Vater um!“
Redlaw blickte bei diesen Worten auf, und als er sich ins Gedächtnis rief, wo er sich befand und bei wem, und sich auf die Zauberworte besann, die er mit sich führte – die seine Überraschung abgeschwächt hatten –, zog er sich etwas hastig zurück und ging mit sich zu Rate, ob er das Haus meiden oder bleiben sollte.
Indem er einer gewissen unheilvollen Verbissenheit nachgab, die ein Teil seines Zustandes zu sein schien, mit dem er kämpfte, entschied er sich für das Bleiben.
„War es erst gestern“,
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