Alle Weihnachtserzählungen
Dank gesagt und seine große Rede gehalten, in der er anhand etlicher Beispiele bewies, daß er der geborene Freund und Vater war und so weiter; und er hatte gerade auf seine Freunde und Kinder und die Würde der Arbeit einen Toast ausgebracht, als ein kleiner Tumult am Ende des Saales Tobys Aufmerksamkeit erregte. Nach einigem Durcheinander, Lärm und Widerstand bahnte sich ein Mann einen Weg durch die Menge und stellte sich nach vorn.
Nicht Richard. Nein. Aber einer, an den er viele Male gedacht und nach dem er gesucht hatte. Bei schwächerem Licht hätte er die Identität dieses erschöpften Mannes, der alt, ergraut und gebeugt war, anzweifeln können, aber im Glanz des Lampenscheins auf dem runzligen Gesicht erkannte er Will Fern in dem Moment, da er vortrat.
„Was soll das?“ rief Sir Joseph, sich erhebend. „Wer gestattete diesem Mann den Zutritt? Das ist ein Verbrecher aus dem Gefängnis! Mr. Fish, hätten Sie die Güte …“
„Eine Minute!“ sagte Will Fern. „Eine Minute! Mylady, Sie wurden an diesem Tag geboren, wie das neue Jahr. Geben Sie mir eine Minute Zeit zum Sprechen.“
Sie legte Fürsprache für ihn ein. Sir Joseph nahm mit der ihm angeborenen Würde wieder Platz.
Der zerlumpte Besucher – er war schäbig gekleidet – schaute sich in der Gesellschaft um und brachte mit einer bescheidenen Verbeugung seine Huldigung dar.
„Ihr feinen Leute!“ sagte er. „Ihr habt auf den Arbeiter getrunken. Seht mich an!“
„Gerade aus dem Gefängnis gekommen“, sagte Mr. Fish. „Gerade aus dem Gefängnis gekommen“, sagte Will. „Und weder zum ersten noch zum zweiten oder dritten oder vierten Mal.“
Mr. Fish hörte man gereizt bemerken, daß viermal über dem Durchschnitt lag und daß er sich schämen sollte.
„Ihr feinen Leute!“ wiederholte Will Fern. „Seht mich an! Ihr seht, ich bin in ’nem denkbar schlechten Zustand. Über jedes Unrecht und jede Kränkung erhaben, über eure Hilfe erhaben, denn die Zeit, in der mir eure freundlichen Worte oder guten Taten geholfen hätten“ – er legte die Hand auf die Brust und schüttelte den Köpf –, „is genauso vergangen wie der Duft nach den Bohnen und dem Klee vom letzten Jahr. Laßt mich ein paar Worte an diese richten“, er wies auf die Arbeiter im Saal, „und wenn ihr schon hier seid, hört euch mal die ganze Wahrheit an.“
„Hier ist kein Mensch“, sagte der Gastgeber, „der ihn als Redner haben möchte.“
„Höchstwahrscheinlich, Sir Joseph. Ich glaube es. Aber vielleicht is das, was ich sage, nich weniger wahr. Vielleicht is es ein Beweis dafür. Ihr feinen Leute, ich hab viele Jahre an diesem Ort gewohnt. Ihr könnt die Hütte von dem eingefallnen Zaun da drüben aus sehen. Hundertmal hab ich gesehn, wie die Damen sie in ihre Bücher gezeichnet haben. Sie sieht aufm Bild gut aus, hab ich sagen hörn, aber auf Bildern gibt’s kein Wetter, und vielleicht isses dafür besser geeignet als zum Drinwohnen. Nun! Ich hab da gewohnt. Wie schwer, wie bitter schwer das Leben da war, will ich nich sagen. An jedem x-beliebigen Tag im Jahr könnt ihr euch selbst davon überzeugen.“
Er sprach wie an dem Abend, als Trotty ihn auf der Straße getroffen hatte. Seine Stimme war tiefer und rauher und zitterte hin und wieder, aber er erhob sie niemals leidenschaftlich und hob sie selten über die feste, strenge Ebene der vertrauten Tatsachen, die er darlegte, hinaus.
„’s is schwerer, als ihr denkt, ihr feinen Leute, an so ’nem schönen, normalerweise schönen Ort aufzuwachsen. Daß ich zu einem Menschen geworden bin, wie ich damals einer war, und zu keinem Untier, das spricht für mich. Wie ich jetz bin, da spricht nichts für mich, und nichts kann für mich getan werden. Das is vorbei mit mir.“
„Ich bin froh, daß dieser Mann hereingekommen ist“, bemerkte Sir Joseph und blickte gelassen um sich. „Unterbrecht ihn nicht. Es scheint vorherbestimmt zu sein. Er ist ein Beispiel, ein lebendes Beispiel. Ich hoffe und glaube und erwarte zuversichtlich, daß es für meine Freunde hier nicht umsonst ist.“
„Ich hab mich so irgendwie durchgeschleppt“, sagte Fern nach kurzem Schweigen. „Weder ich noch irgendein andrer weiß, wie. Aber so mühsam, daß ich kein fröhliches Gesicht aufsetzen oder den Eindruck erwecken konnte, daß ich jemand andres als ich selbst war. Nun, meine Herren, die ihr über andere urteilt! Wenn ihr einen Mann mit unzufriedenem Gesichtsausdruck seht, sagt ihr untereinander: ‚Er ist verdächtig.
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