Alle Weihnachtserzählungen
Gedanken. „Da stand sie – zitternd! ‚Wie sieht sie aus, Richard? Spricht sie noch von mir? Ist sie dünner geworden? Mein alter Platz am Tisch, was ist an meinem alten Platz? Und der Webstuhl, an dem sie mir unsere frühere Arbeit beigebracht hat – hat sie ihn verbrannt, Richard?‘ Sie war da. Ich habe sie das sagen hören.“
Meg hielt im Schluchzen inne, und während ihr die Tränen herunterrannen, beugte sie sich über ihn, um zu lauschen und sich kein Wort entgehen zu lassen.
Die Arme auf die Knie gestützt und auf seinem Stuhl vornübergebeugt, als ob das, was er sagen wollte, in undeutlicher Schrift auf den Fußboden geschrieben wäre und nun von ihm entziffert und in Zusammenhang gebracht werden müßte, fuhr er fort:
„‚Richard, ich bin sehr tief gesunken, und du kannst dir vielleicht vorstellen, wie sehr ich darunter litt, diese Börse zurückgeschickt zu bekommen, nachdem ich mich überwunden habe, sie eigenhändig zu dir zu bringen. Aber du hast Meg einmal von Herzen geliebt. Ich erinnere mich genau! Andere traten zwischen euch; Ängste und Eifersucht, Zweifel und Eitelkeit trennten dich von ihr; aber du hast sie geliebt, ich erinnere mich genau!‘ Wahrscheinlich“, sagte er und unterbrach sich selbst einen Augenblick. „Das habe ich! Das gehört nicht hierher. ‚O Richard, wenn du sie je geliebt hast, wenn du ein Gedächtnis hast für das, was aus und vorbei ist, bringe sie ihr noch einmal hin. Noch einmal! Erzähle ihr, wie ich meinen Kopf an deine Schulter gelegt habe, wo ihr Kopf gelegen haben mag, und so demütig zu dir war, Richard. Erzähle ihr, daß du mir ins Gesicht geschaut und gesehen hast, daß die Schönheit, die sie immer pries, vergangen, ganz vergangen ist und daß an ihre Stelle magere, blasse und hohle Wangen getreten sind, bei deren Anblick sie weinen würde. Erzähle ihr alles und nimm das Geld mit zurück, und sie wird es nicht wieder abweisen. Das wird sie nicht übers Herz bringen!‘“
So saß er in Gedanken versunken und wiederholte die letzten Worte, bis er wieder zu sich kam und aufstand.
„Du willst es nicht annehmen, Margaret?“
Sie schüttelte den Kopf und gab ihm durch ein Zeichen zu verstehen, daß er sie verlassen möge.
„Gute Nacht, Margaret.“
„Gute Nacht!“
Er wandte sich um, sie anzusehen, denn er war betroffen von ihrem Kummer und vielleicht von dem Mitleid, das in ihrer Stimme für ihn mitschwang. Es war eine rasche Geste, und einen Augenblick lang flammte etwas von seinem früheren Verhalten in ihm auf. Im nächsten Moment verschwand er, wie er gekommen war. Auch schien ihm dieses Aufglimmen eines verlöschenden Feuers nicht dazu zu verhelfen, ihm seine Verderbtheit bewußt zu machen.
In jeder Stimmung, bei jedem Kummer, bei jeder seelischen oder körperlichen Pein mußte Megs Arbeit getan werden. Sie saß über ihrer Aufgabe und arbeitete daran. Es wurde spät, und um Mitternacht arbeitete sie noch immer.
Sie hatte ein schwaches Feuer, und die Nacht war sehr kalt. In Abständen erhob sie sich, um es zu schüren. Die Silvesterglocken schlugen halb eins, während sie sich in dieser Weise beschäftigte, und als sie zu Ende geläutet hatten, hörte sie ein leises Klopfen an der Tür. Noch ehe sie sich fragen konnte, wer zu dieser ungewöhnlichen Stunde käme, öffnete sie sich.
O Jugend und Schönheit, glücklich, wie du sein solltest, schau hin! O Jugend und Schönheit, gesegnet und alle in deiner Reichweite segnend und die Absichten deines gütigen Schöpfers vollendend, schau hin!
Sie sah die eintretende Gestalt und schrie auf: „Lilian!“
Lilian fiel eilends vor ihr auf die Knie und umschlang ihr Kleid.
„Komm hoch, Liebes! Steh auf, Lilian! Mein Liebstes!“
„Nie mehr, Meg, nie mehr. Hier. Dicht bei dir, mich an dir festhalten, deinen Atem im Gesicht spüren!“
„Liebe Lilian! Lilian, mein Liebling! Mein Herzenskind – keine Mutterliebe kann zärtlicher sein –, leg deinen Kopf an meine Brust!“
„Nie mehr, Meg. Nie mehr. Als ich das erstemal in dein Gesicht blickte, knietest du vor mir. Laß mich, vor dir kniend, sterben. Laß es hier geschehen.“
„Du bist zurückgekommen, mein Schatz. Wir wollen gemeinsam leben, gemeinsam arbeiten, gemeinsam hoffen, gemeinsam sterben!“
„Oh! Küsse mich auf den Mund, Meg. Umarme mich, drücke mich an deine Brust, sieh mich freundlich an, aber ziehe mich nicht zu dir hoch. Laß es hier geschehen. Laß mich zum letztenmal dein liebes Gesicht sehen, wenn ich knie!“ O
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