Alle Weihnachtserzählungen
mit zärtlicher Stimme über die alten Zeiten und die Glocken. Obwohl er wußte, der arme Trotty, daß sie ihn nicht hören konnte.
Ein großer Teil des Abends war verstrichen, als es an die Tür klopfte. Sie öffnete. Ein Mann stand auf der Schwelle. Ein vornübergebeugter, niedergeschlagener, betrunkener Schmutzfink, der von Ausschweifungen und Lasterhaftigkeit ausgezehrt war, mit seinem verfilzten Haar und unrasierten Bart schrecklich unordentlich aussah und doch Spuren davon zeigte, daß er in seiner Jugend eine gute Figur und ein gutes Aussehen gehabt hatte.
Er blieb stehen, bis er ihre Erlaubnis hatte einzutreten. Sie trat einen oder zwei Schritte von der offenen Tür zurück und betrachtete ihn schweigend und sorgenvoll. Trottys Wunsch ging in Erfüllung. Er sah Richard.
„Darf ich hineinkommen, Margaret?“
„Ja, komm herein. Komm herein.“
Es war gut, daß Trotty ihn erkannt hatte, bevor er sprach, denn wenn er im Zweifel gewesen wäre, hätte ihn die harte, schroffe Stimme überzeugt, daß es sich nicht um Richard, sondern um einen anderen Mann handelte.
Es standen nur zwei Stühle im Raum. Sie gab ihm ihren, stellte sich in einiger Entfernung hin und wartete, was er ihr zu sagen hätte.
Er jedoch saß da und starrte ausdruckslos auf den Fußboden, matt und stumpfsinnig lächelnd. Das war ein Schauspiel von so tiefer Erniedrigung, so großer Hoffnungslosigkeit, so traurigem Zerfall, daß sie die Hände vors Gesicht hielt und sich abwandte, damit er nicht sehen sollte, wie betroffen sie war. Von dem Rauschen ihres Kleides oder einem ähnlichen belanglosen Geräusch aufgeschreckt, hob er den Kopf und begann zu sprechen, als ob es keine Pause seit seinem Eintreten gegeben hätte.
„Noch bei der Arbeit, Margaret? Du arbeitest lange.“
„Das mache ich meistens.“
„Fängst auch früh an?“
„Ja, sehr früh.“
„Das hat sie gesagt. Sie sagte, du bist nie müde geworden oder hast nie zugegeben, daß du müde warst. Die ganze Zeit nicht, in der ihr zusammen gelebt habt. Nicht einmal, als du vor Arbeit und Hunger ohnmächtig geworden bist. Aber das habe ich dir schon das letztemal gesagt, als ich herkam.“
„Ja“, antwortete sie. „Und ich flehte dich an, mir nicht mehr zu erzählen. Und du gabst mir das feierliche Versprechen, daß du es nie tun würdest.“
„Ein feierliches Versprechen“, wiederholte er, töricht lachend und ausdruckslos vor sich hin starrend. „Ein feierliches Versprechen. Sicher. Ein feierliches Versprechen!“ Nach einiger Zeit erwachte er auf dieselbe Weise wie vorher und sagte mit plötzlicher Lebhaftigkeit: „Wie kann ich das ändern, Margaret? Was soll ich tun? Sie ist wieder bei mir gewesen!“
„Wieder?“ rief Meg und rang die Hände. „Oh, denkt sie so oft an mich! Ist sie wieder dagewesen!“
„Schon zwanzigmal“, sagte Richard. „Margaret, sie verfolgt mich. Sie kommt auf der Straße hinter mir her und steckt es mir in die Hand. Ich höre ihre Schritte, wenn ich bei der Arbeit bin (was nicht oft vorkommt, haha!), und ehe ich den Kopf wenden kann, sagt mir ihre Stimme ins Ohr: ,Richard, sieh dich nicht um. Um der Liebe Gottes willen gib ihr das!‘ Sie bringt es hin, wo ich wohne. Sie schickt es in Briefen. Sie klopft ans Fenster und legt es auf das Fensterbrett. Was kann ich tun? Sieh es dir an!“
Er streckte seine Hand mit einer kleinen Geldbörse aus und klimperte mit dem Geld.
„Verstecke es“, sagte Meg. „Verstecke es! Wenn sie wiederkommt, sage ihr, Richard, daß ich sie von ganzem Herzen liebe. Daß ich mich nie zur Ruhe lege, ohne sie zu segnen und für sie zu beten. Daß ich nie aufhöre, bei meiner einsamen Arbeit an sie zu denken. Daß sie Tag und Nacht bei mir ist. Daß ich mich, falls ich morgen sterben müßte, mit meinem letzten Atemzug an sie erinnern würde. Daß ich dieses Geld aber nicht sehen kann!“
Langsam zog er seine Hand zurück und sagte in träger Nachdenklichkeit, indem er die Geldbörse zusammendrückte:
„Das habe ich ihr gesagt. Das habe ich ihr gesagt, so klar und deutlich, wie es Worte vermögen. Ich habe dieses Geschenk (seitdem schon ein dutzendmal) zurückgebracht und an ihrer Tür gelassen. Aber wenn sie schließlich ankam und so vor mir stand, was konnte ich da tun?“
„Du hast sie gesehen!“ rief Meg. „Du hast sie gesehen! O Lilian, mein süßes Mädchen! O Lilian, Lilian!“
„Ich habe sie gesehen“, fuhr er fort, ohne zu antworten, vielmehr in demselben langsamen Fluß seiner
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