Alle Weihnachtserzählungen
in der Nacht um sie kümmerte und zu ihr zurückkehrte, als ihr mißmutiger Mann schlief und alles still war; wie sie sie ermutigte, Tränen mit ihr vergoß und ihr etwas Eßbares vorsetzte. Er sah den Tag und die Nacht kommen; er sah Tag und Nacht, die Zeit, vorübereilen; das Todeshaus war vom Tod befreit; das Zimmer ihr und ihrem Kind gelassen; er hörte es jammern und weinen; er sah, wie es sie quälte und erschöpfte und, sobald sie vor Erschöpfung einnickte, wachrüttelte und sie mit den kleinen Händen in die Folter nahm. Aber sie war gleichbleibend freundlich und geduldig zu ihm. Geduldig. Sie war tief in ihrem Herzen und in ihrer Seele eine liebende Mutter, und sie waren miteinander verbunden, als trüge sie das Kind noch ungeboren unter ihrem Herzen.
Die ganze Zeit litt sie Not, siechte in äußerster und peinigender Not dahin. Mit dem Kind im Arm zog sie auf der Suche nach Arbeit hierhin und dorthin und erledigte, wobei das schmale Gesicht in ihrem Schoß lag und in ihres hinaufblickte, jegliche Arbeit für jeden noch so elenden Lohn; die Arbeit eines Tages und einer Nacht für so viele Farthings , wie das Zifferblatt Zahlen hat. Wenn sie mit ihm geschimpft oder es vernachlässigt hätte, wenn sie es einen Moment lang haßerfüllt angesehen hätte, wenn sie es in der Erregung eines Augenblicks geschlagen hätte! Nein. Sein Trost war, daß sie es immer liebte.
Sie sprach zu niemandem von ihrer höchsten Not und streifte draußen umher, damit sie nicht von ihrer einzigen Freundin befragt werden konnte, denn jegliche Hilfe, die sie aus deren Händen empfing, rief neue Streitereien zwischen der guten Frau und ihrem Mann hervor, und es war ein neuerlicher Schmerz, täglich der Anlaß zu Zank und Streit zu sein bei Leuten, denen sie so viel verdankte.
Sie liebte es dennoch. Sie liebte es immer mehr. Doch im Wesen ihrer Liebe vollzog sich ein Wandel. Eines Nachts.
Sie sang es gerade leise in den Schlaf und lief auf und ab, um es zu besänftigen, als ihre Tür sachte geöffnet wurde und ein Mann hereinschaute.
„Zum letztenmal“, sagte er.
„William Fern!“
„Zum letztenmal.“
Er lauschte wie einer, der verfolgt wird, und sprach im Flüsterton.
„Margaret, meine Zeit is bald abgelaufen. Ich konnte nich ohne ein Abschiedswort sterben. Ohne ein Wort des Dankes.“
„Was hast du getan?“ fragte sie und betrachtete ihn mit Schrecken.
Er sah sie an, gab aber keine Antwort.
Nach kurzem Schweigen machte er eine Handbewegung, als wollte er ihre Frage auslöschen, und sagte:
„Es is jetzt lange her, Margaret, aber diese Nacht is mir so frisch im Gedächtnis wie einst. Damals dachten wir kaum“, fügte er hinzu und blickte um sich, „daß wir uns jemals so begegnen würden. Dein Kind, Margaret? Laß es mich in die Arme nehmen. Laß mich dein Kind halten.“
Er legte seinen Hut auf den Fußboden und nahm es. Und er zitterte am ganzen Leibe, als er es nahm.
„Isses ein Mädchen?“
„Ja.“
Er hielt seine Hand vor das kleine Gesicht.
„Sieh, wie schwach ich geworden bin, Margaret, wenn ich sogar den Mut brauche, sie zu betrachten. Laß sie mal ’n Moment. Ich möchte ihr nich weh tun. Es is lange her, aber – wie heißt sie?“
„Margaret“, antwortete sie schnell.
„Darüber bin ich froh“, sagte er. „Darüber bin ich froh!“ Er schien freier zu atmen, und nachdem er einen Augenblick innegehalten hatte, nahm er seine Hand weg und schaute auf das Gesicht des Kindes hinab, bedeckte es aber sofort wieder.
„Margaret!“ sagte er und gab ihr das Kind zurück. „Das is Lilian.“
„Lilian!“
„Ich hielt dasselbe Gesicht in meinen Armen, als Lilians Mutter starb und sie zurückließ.“
„Als Lilians Mutter starb und sie zurückließ!“ wiederholte sie verstört.
„Wie schrill du sprichst! Warum heftest du deine Blicke so auf mich? Margaret!“
Sie sank auf einen Stuhl, preßte das Kind an ihre Brust und weinte. Manchmal entließ sie es aus ihrer Umarmung, um ihm angstvoll ins Gesicht zu schauen, und dann zog sie es erneut an ihre Brust. In den Augenblicken, wenn sie es anstarrte, begann sich etwas Wildes und Schreckliches mit ihrer Liebe zu vermischen. Dann erzitterte ihr alter Vater.
„Folge ihr!“ erklang es durch das Haus. „Lerne von dem Geschöpf, das deinem Herzen am nächsten steht!“
„Margaret“, sagte Fern, beugte sich über sie und küßte sie auf die Stirn, „ich danke dir für die letzte Zeit. Gute Nacht. Auf Wiedersehen. Lege deine Hand in meine und
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