Alle Zeit - Roman
diese Art und Weise. Aaron hat ihr inzwischen sein Testament
gegeben und ihr gesagt, sie möge dafür sorgen, dass er auch wirklich verbrannt wird. Das hab ich meiner Familie versprochen,
hat er gesagt und auf die Nachfrage von Klara mit dem Satz: Lass uns einen Wodka trinken, Klara, geantwortet.
Da hat sie dann gesagt: Ich weiß doch, dass deine Familie in die Lager gegangen ist und in die Öfen. Da musst du jetzt nicht
immer ablenken.
Und Aaron hat mit der rechten Hand diese Schlussstrichbewegung gemacht, einmal quer durch die Luft und den Raum in zwei Hälften
schneiden. Da weiß Klara dann immer, dass es jetzt Zeit ist, über andere Dinge zu reden. Und das tut sie dann auch. Wir sind
alt, denkt sie dann und redet über andere Dinge. Es hat keinen Sinn, über die Vergangenheit zu sprechen. Aber denken muss
sie immer an die Vergangenheit. Sie hat sich ganz gut vorangearbeitet. Und weiß inzwischen ziemlich viel. Der netten Pflegerin
erzählt sie manchmal etwas davon. Aber nur die guten Sachen. Mit den schlechten kommt sie auchnicht ins Reine. Und schon gar nicht mit dem Gedanken an Henriette und Elisa. Das weiß nun wirklich niemand hier. Dass sie
sich erinnert an Henriette und deren Kind.
Als sie hierherkam, ins Heim, war wirklich fast alles verschwunden. Die haben sie im Krankenhaus irregemacht. Immer davon
geredet, dass irgendetwas passiert sein müsse, was Klara so aus der Bahn und aufs Krankenbett geworfen habe. Kann ja alles
sein. Aber daran erinnert sie sich nicht. Nun bastelt sie Stück für Stück die Vergangenheit zusammen, solange es eben noch
geht. Ein Wettlauf mit der Verblödung ist das.
Klara steht auf und geht ins Bad. Sie stellt sich vor den Spiegel und erkennt sich nicht. Ihre makellosen Zähne aus Kunststoff
grinsen lustig, und der Spiegel wirft das Grinsen zurück. Sie setzt sich aufs Klo und pinkelt. Durch Schlüpfer, Strumpfhose
und dunkelblaue Leinenhose rinnt der warme Urin. Nichts kommt in der Kloschüssel an, alles bleibt in den Sachen. Klara steht
auf, geht ins Zimmer und legt sich ins Bett. Eine stinkende alte Frau, so liegt sie da und guckt in die Luft. Ein kleiner
Hauch weht und bauscht die Gardine etwas auf. Klara bekommt Angst vor der monströsen Figur am Fenster. Sie steht auf und kramt
in der Schublade des Nachttischs, bis sie die kleine Nagelschere findet. Mit der schneidet sie dem Gardinenmonster die Beine
ab. Das dauert seine Zeit, und Klara fängt an zu schwitzen. Vor allem zwischen den Beinen. Glaubt sie. Da schwitze ich jetzt
schon zwischen den Beinen. Klara kann sich selbst riechen.
Als sie wieder ein bisschen klar denken kann, steht sie vor der Bescherung und jammert. Was sie da angerichtet hat, lässt
sich nicht so schnell in Ordnung bringen. Und in zwei Stunden kommt Aaron, um sie abzuholen. Klara fasst sich an die Brust.
Dahin, wo nichts mehr ist, und reibt über das Narbengewebe, bis es anfängt weh zu tun.Sie geht ins Bad und sucht nach der Pfütze, die sie doch irgendwohin gemacht haben muss. Wenn sie so stinkt wie jetzt, muss
da eine Pfütze sein. Sie findet nichts und beginnt sich aus- und umzuziehen und stopft die Sachen dieses Mal in die Plastiktüte,
in der das Buch für Aaron gelegen hat. Das die Pflegerin für Klara gekauft hatte, und Klara hat es dann Aaron geschenkt. Jetzt
kommen da die stinkenden Klamotten rein. Und später müssen sie ganz verschwinden. Vielleicht in einem Papierkorb im Park.
Dann die Dusche, dann neue Sachen, dann den Schaden mit der Gardine begucken. Dazu fällt ihr nichts ein. Gar nichts.
Klara fängt an zu weinen. Sie sitzt auf dem Bett und weint, wegen der Gardine. Die ein Beweis dafür ist, dass ihr der Verstand
immer häufiger abhandenkommt. Das ist schlimmer, als die Brüste zu verlieren. Denkt sie. Und denkt sich zurück, damit das
hier nicht mehr so schlimm ist.
***
Franz schickt sie zum Arzt. Ein Jahr, nachdem Klara selbst den kleinen, festen Knoten gespürt hatte. Als sie neben Henriette
am Bettchen saß.
Du musst das untersuchen lassen, sagt er und schaut Klara an mit seinen blauen Heestersaugen. Das muss ja nun nichts Schlimmes
sein, aber man will es doch wissen, Klara.
Klara will es nicht wissen. Sie weiß es schon. Und sie denkt, dass sie noch ein paar Jahre mit dem Knoten da rumlaufen kann
und dann auf einen Schlag sterben wird. So, bildet sie sich ein, läuft das, wenn eine Frau den Brustkrebs hat. Und bei der
Arbeit können sie ganz gewiss nicht auf sie
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