Allein auf Wolke Sieben
noch nicht einmal in die Arme schließen«, meint sie kopfschüttelnd und wirft mir statt dessen ein paar Kusshände zu. Irritiert sehe ich die fremde Frau vor mir an. Kennen wir uns denn? Irgendetwas an ihr kommt mir seltsam vertraut vor, das schon. Angestrengt krame ich in meiner Erinnerung, aber es will mir einfach nicht einfallen. Nun hört sie auf, mich mit fliegenden Küssen zu
bewerfen, und lässt die Hände wieder sinken. »Es ist so schön, dich wiederzusehen. Was für ein Glück, dass ich dich überhaupt antreffe, arbeitest du denn gar nicht? Und wofür hast du dich denn überhaupt entschieden? Oh, du musst mir alles erzählen, meine Süße. Ich war ja schockiert, dass du schon da bist, das muss ich sagen. Es tut mir wirklich leid, dass ich erst jetzt gekommen bin, weißt du, ich war auf der anderen Seite.« Auf der anderen Seite? Wie meint sie denn das? »Also, über Australien. Aber das ist eine lange Geschichte, erzähl du doch erst mal.« Erwartungsvoll sieht sie mich an und ihre blauen Augen blitzen. Plötzlich überfällt mich eine Erinnerung. Die Erinnerung an eine kleine, alte Frau mit strahlend blauen Augen in einem gutmütigen, faltigen Gesicht. Mit sehr geradem Rücken sitzt sie auf einem altmodischen, geblümten Ohrensessel, neben sich eine Tasse dampfenden Tees, hat ihre Familie um sich versammelt und lauscht interessiert ihren Geschichten.
»Oma Liesel?«, frage ich atemlos und sie lächelt mich an.
»Natürlich«, nickt sie. »Hast du mich etwa nicht erkannt?«
Auch eine halbe Stunde später kann ich es immer noch nicht fassen, dass meine geliebte Großmutter wirklich neben mir in der Hängematte sitzt.
»Ich hatte es mir so schön vorgestellt, deinen Großvater endlich wiederzusehen und dann alsbald mit ihm auf die Erde zurückzukehren.« Mein Opa war zwanzig Jahre älter als meine Oma und ist gestorben, als ich noch ein kleines Mädchen war.
»Und was ist schiefgelaufen?«
»Nun, dein Opa hatte es anscheinend satt, auf mich zu warten, und ist ohne mich gegangen. Er hat ein neues Leben in Australien angefangen.«
»Oje!«
»Das kannst du laut sagen«, sagt meine Oma verstimmt. »Ich bin sofort rüber, als ich davon erfahren habe, um ein Auge auf ihn zu haben. Und was muss ich sehen? Er hat eine schlanke, braungebrannte Blondine zur Frau genommen und macht sich mit ihr ein schönes Leben. Was sagt man dazu?«
»Das tut mir leid«, sage ich mitfühlend und würde ihr gerne tröstend die Hand auf den Arm legen. Geht aber leider nicht. So begnüge ich mich mit einem mitleidigen Seufzer.
»Ich habe mich über Australien häuslich niedergelassen und dort mein Studium absolviert.«
»Was machst du denn?«, werfe ich neugierig ein und stoße einen bewundernden Pfiff aus, als sie »Schutzengel« antwortet.
»Ehrlich? Das dauert doch eine Ewigkeit. Ich habe gehört, es ist unheimlich schwer.«
»Das stimmt, man muss fast einhundert Seminare besuchen. Aber es ist der tollste Job der Welt! Und was machst du?«
»Ach, ich bin Helfer«, sage ich wegwerfend und sie rümpft die Nase. »Ich weiß«, nicke ich, »das war eine Kurzschlussentscheidung. Und keine besonders gute. Jedenfalls habe ich mir fest vorgenommen, etwas anderes zu suchen.«
»Also, ehrlich, Süße, hast du denn von unten nichts gelernt?« Damit spielt sie auf meine Arbeit als Industriekauffrau an, die mir auch nie wirklich Spaß gemacht
hat. »Du solltest dich für nächstes Semester für das Schutzengelstudium einschreiben. Schutzengelwissenschaften, das wäre was für dich.«
»Mal sehen«, wäge ich ab und wechsele das Thema. »Du wolltest gerade erzählen, warum du über Australien geblieben bist.«
»Na, warum wohl?«, ruft sie empört, »weil ich Hinrichs Ankunft auf keinen Fall verpassen möchte. Jetzt heißt er übrigens John. Na, dem werde ich vielleicht was erzählen. Jedenfalls habe ich erst vor einem Jahr erfahren, dass du hier bist. Da habe ich mich sofort auf den Weg gemacht!«
»Du bist zu Fuß von Australien hierher gelaufen«, frage ich erstaunt und sie nickt.
»Natürlich. Wie sonst? Das war nicht weiter schlimm, schließlich bekommt man hier ja keine Blasen, nicht wahr?«
Eine halbe Stunde später lassen wir uns im »Sternenfänger« auf dem gemütlichen Ecksofa aus dunkelrotem Samt nieder, das seit vielen Jahren mein Stammplatz ist. Das Lokal ist mit plüschigen Polstermöbeln in Knallfarben vollgestopft, denn hier treffen sich die Seelen der Umgebung gerne, um ihren Feierabend einzuläuten.
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