Allein auf Wolke Sieben
das Licht einschalten.« Während ich geduldig dastehe und warte, dringt plötzlich ein merkwürdiges Geräusch an mein Ohr, eine Art Summen und Brummen, wie hundert wispernde Stimmen, die zu einem einzigen Ton verschmelzen. Ich horche gebannt und sehe mich selbst als kleines Mädchen auf der Wiese einer Waldlichtung liegen, wie ich das Ohr ganz fest auf den Boden presse, weil meine Oma mir erzählt hat, wenn ich ganz genau hinlausche, dann könnte ich die Elfen, die für das menschliche Auge unsichtbar in den Blütentrichtern der Blumen sitzen, miteinander plaudern hören. »Na also«, ruft Thomas jetzt zufrieden und gleich darauf breitet sich um uns herum ein warmes Licht aus, bis es taghell im Raum ist. Ich brauche einen Augenblick, um mich an die Helligkeit zu gewöhnen, dann schaue ich mich neugierig um. Ich stehe am Ende eines schmalen, scheinbar endlos langen Korridors. Fußboden und Decke sind mit einem dunkelblauen Material ausgelegt, die sicher vier Meter hohen Wände leuchten in den unterschiedlichsten Farben. Beim näheren Hinsehen entdecke ich jedoch, dass sich ihre Oberfläche aus unzähligen bunten Kugeln zusammensetzt, die an kleinen, silbernen Häkchen vor sich hin baumeln. Manche schwingen sanft daran hin und her, andere kreiseln, hüpfen und vibrieren, wieder andere hängen einfach nur da und pulsieren kaum wahrnehmbar.
»Wo sind wir hier? Was ist das?«, erkundige ich mich.
»Das Archiv«, klärt Thomas mich auf. Ich verstehe
nicht wirklich, was er meint, aber die schimmernden Gebilde an der Wand machen mich neugierig. Staunend trete ich näher und richte meinen Blick auf eine hellgrüne Kugel, die an der linken Wand etwa auf Brusthöhe vor mir hängt. In ihrem Inneren wabert dichter, pastellfarbiger Nebel. Und jetzt entdecke ich auch das kleine silberne Schild, das darunter an der Wand befestigt ist und auf dem »Ida Knaup« steht.
»Was ist das?«, frage ich erneut und beobachte fasziniert die aufleuchtenden Farben.
»Das ist ein Leben.« Ruckartig drehe ich mich zu Thomas um und sehe ihn fassungslos an.
»Wie bitte?« Er nickt. »Willst du damit sagen, dass hier alle Leben aufbewahrt werden, die unten auf der Erde sind?« Ich sehe den langen Gang hinunter. Wie lang muss er sein, um sämtliches Leben auf der Erde zu fassen? Doch Thomas schüttelt den Kopf.
»Natürlich nicht. Die befinden sich natürlich im gro ßen Archiv beim Chef. Hier landen sie nur zur Abwicklung.« Abwicklung? Was das bedeutet, kann ich mir vorstellen. Mir läuft ein eisiger Schauer über den Rücken.
»Verstehe«, krächze ich mit heiserer Stimme.
»Sie kommen hierher mit einem Vorlauf von etwa einer Woche«, klärt Thomas mich weiter auf, obwohl ich ihn gar nicht um nähere Informationen gebeten habe. Da könnte ich auch gut drauf verzichten. »Und wir verteilen dann die Aufträge so, wie wir es für richtig halten.«
»Das heißt, es liegt in deiner Hand, wer welchen Menschen abholt?«
»Meistens ja«, antwortet er. »Aber manchmal bekommen wir auch Anweisungen direkt aus der Chefetage.
Und … da können wir uns natürlich nicht drüber hinwegsetzen.«
»Natürlich nicht.« Ich nicke verstehend, höre aber seinen Ausführungen nur halbherzig zu. Ich habe nämlich an der rechten Wand etwas entdeckt, das meine Aufmerksamkeit fesselt. Wie magisch angezogen trete ich näher und richte meinen Blick nach oben. Da, einen halben Meter über mir, hängt eine Kugel in schimmerndem Blau. Sie funkelt wie ein Diamant und bewegt sich an ihrem Häkchen, als würde sie zu einer sanften Melodie tanzen. Die will ich mir genauer ansehen. Als ich meine Hand danach ausstrecke, verstärkt sich der Lichtschein in ihrem Inneren.
»Nicht anfassen, warte«, erklingt die warnende Stimme von Thomas und ich zucke erschreckt zurück. Schon tritt er hinter mich und sieht mich wieder mit diesem durchdringenden Blick an: »Wie ich sagte, manchmal entscheidet der Boss persönlich, wer …«
»Ja ja, ich habe es doch verstanden«, falle ich ihm ungeduldig ins Wort. »Darf ich die Kugel da oben mal anschauen?« Ich kann meinen Blick kaum von ihr abwenden.
»Na gut.« Umständlich holt er ein Paar feinseidene Handschuhe hervor und zieht sie an.
»Nun mach schon«, drängele ich.
»Kann ich dir nicht erst …?«
»Nein.« Ergeben seufzend stellt er sich auf die Zehenspitzen und pflückt vorsichtig das Leben von seinem Haken. Wie ein rohes Ei hält er es in der gewölbten Handfläche vor mich hin, aber mich interessiert plötzlich nur noch
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