Allein auf Wolke Sieben
spät es ist. Der würzige Duft von kräftiger Brühe steigt mir in die Nase und lässt mir das Wasser im Mund zusammenlaufen. Sicher, vielleicht gibt es im Krankenhaus nicht gerade Sterneküche, aber wenn man seit drei Monaten über eine Magensonde ernährt wird, ist man auch diesbezüglich nicht mehr so wählerisch.
Ich konzentriere mich ganz auf die Essensgerüche, die durch den Türspalt in mein Zimmer dringen, über den Boden wabern, am Bettgestell hochklettern und schließlich das Innerste meiner Nase kitzeln. Rinderbouillon mit Nudeln und Eierstich. Eine Scheibe Graubrot mit Butter und gekochtem Schinken. Ach, was soll’s, ich lege sogar noch eine dicke Scheibe Gouda obendrauf. Zum Nachtisch gibt es cremigen Schokoladenpudding mit Schlagsahne. Oh, wie gut wäre das jetzt, diese drei Gänge nacheinander zu genießen, statt sie als zusammengemixten Pamps direkt in den Magen geleitet zu bekommen. Ich sehe einen riesigen Mixer vor mir, in dem sich Suppe, Brot, Aufschnitt und Pudding in Sekundenschnelle in einen unansehnlichen Brei verwandeln. Das ist so unappetitlich, dass mir bei dem Gedanken schlecht wird. Und dann werde ich plötzlich wütend. So wütend, dass ich am liebsten losbrüllen, mir die Magensonde herausreißen, das ewig piepsende Ding zu meiner Linken kurz und klein hauen möchte. Ich will so nicht mehr leben. Ich will nicht mehr nur so daliegen. Ich will mir die Menschen um mich herum nicht vorstellen müssen. Ich will sie sehen. Ich will meinen Mann anfassen und küssen, mit ihm reden können. Ich will mich schminken und nicht leichenblass hier im Bett liegen, darauf angewiesen, dass andere mich waschen. Ich will nicht mein Dasein fristen, indem ich drei Möchtegern-Detektiven dabei zuhöre, wie sie vollkommen unrealistische Kriminalfälle lösen. Ich will die Sonne sehen, ich will im Regen spazieren gehen, ich will shoppen gehen, obwohl mein Konto in den Miesen ist, will mit meiner Schwester endlich den Yoga-Kurs besuchen, den wir seit Jahren vor uns herschieben, will mit meinem Mann die
Nacht durchvögeln und am nächsten Morgen müde, aber glücklich mit ihm am Frühstückstisch sitzen. Ich will in unser Lieblingsrestaurant gehen und wie immer die Spaghetti in Weißweinsoße bestellen. Ich will endlich auch die anderen Gerichte auf der Speisekarte ausprobieren. Ich will Tiramisu zum Nachtisch essen, obwohl ich schon satt bin. Ich will mir eine Staffelei kaufen und die Aussicht aus unserem Küchenfenster malen. Ich will argentinischen Tango lernen, das Chaos auf dem Dachboden beseitigen und mit Michael ein Baby bekommen. Ein schriller, langgezogener Ton direkt neben mir reißt mich aus meinen Gedanken. Vor lauter Wut über meine Situation hat sich mein Herzschlag beschleunigt. Ob das ein gutes Zeichen ist? Ob ich jetzt endlich aufwache? Die Tür zu meinem Zimmer wird aufgestoßen, um mich herum herrscht hektische Betriebsamkeit, der Arzt und Schwester Klara reden miteinander. Angestrengt versuche ich, ihrem Gespräch zu folgen, aber ich kann kaum etwas von dem verstehen, was sie sagen. Merkwürdig. Etwas berührt meine Stirn an mehreren Stellen, aber ich vermag nicht einzuordnen, was es ist. Das Gemurmel um mich herum wird leiser, mein Körper fühlt sich taub an. Was passiert hier? Plötzlich bekomme ich es mit der Angst zu tun. Ich kann spüren, wie das Herz in meiner Brust immer heftiger schlägt, aber den damit einhergehenden Ton der Maschine höre ich nicht mehr. Es fühlt sich an, als würde sich die Welt um mich herum zusammenziehen, mich ersticken.
»Was ist mit ihr?« Ich höre die mühsam zurückgehaltene Panik in Michaels Stimme, als er ins Zimmer tritt. Staunend sehe ich ihn an. Er trägt helle Jeans und den dunkelbraunen Kapuzenpullover, den ich so an ihm
liebe. Seine dunkelblonden Haare sind länger geworden, seit ich ihn das letzte Mal gesehen habe, und er trägt einen eher Sechs- als Drei-Tage-Bart, was ihm ein verwegenes Aussehen gibt. Seine bernsteinbraunen Augen fliegen ängstlich zwischen mir, einem schmächtigen, glatzköpfigen Mann im Kittel und einer hochgewachsenen Blondine hin und her. »Sagen Sie schon, was ist los?«, wiederholt er drängend, während ich noch die Überraschung verdaue, dass das rothaarige Rasseweib aus meiner Vorstellung in Wahrheit aussieht wie Barbie. Dann stoße ich einen Schrei aus.
»Oh mein Gott, ich bin wach!« Ich kann es kaum fassen, meine eigene Stimme zu hören. Die Menschen, das Krankenzimmer zu sehen. Ich lasse meinen Blick durch den
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