Allein auf Wolke Sieben
aufspringen lasse. Aber statt des erwarteten Ziffernblattes mit einem frei darauf schwingenden Zeiger sehe ich in das Innere eines Medaillons. In der linken Seite steckt ein Bild meines Großvaters, das ihn im Alter von schätzungsweise vierzig Jahren zeigt. Das andere ist eine uralte, verblasste Zeichnung eines Mannes mit ernsten Augen und einer weißen, altmodischen Lockenperücke: Mozart. Sprachlos sehe ich meine Oma an, die errötend von einem Bein aufs andere tritt und meinem Blick ausweicht. Ich weiß gar nicht, was ich zuerst fragen soll, die Gedanken überschlagen sich in meinem Kopf. Das sich anbahnende Liebesdreieck zwischen meinen Großeltern und einem 1791 gestorbenen Komponisten ist schon an sich zu viel für meine Nerven. Aber etwas anderes bereitet mir im Moment noch viel größere Sorgen.
»Woher weißt du den Weg, wenn das hier kein Kompass ist?«, bringe ich mühsam hervor.
»Weil wir einfach nur in Richtung der Sonne gehen müssen«, meint sie achselzuckend und hält mir auffordernd die Hand hin. »Darf ich mein Medaillon wiederhaben?« Ich zögere einen Moment, lasse es aber dann in ihre ausgestreckte Rechte fallen. Ihr Liebesleben ist schließlich nicht meine Angelegenheit. Sie wirft noch einen zärtlichen Blick auf die beiden Männerbilder und lässt sie dann zurück in ihre Tasche gleiten.
»In Richtung Sonne«, sage ich verständnislos, »aber die ist doch immer woanders.«
»Sehr richtig. Aber um Punkt zwölf Uhr erreicht man sein Ziel.«
»Du meinst, egal, wie lange man gelaufen ist?«, frage ich ahnungsvoll und sie nickt.
»Raus aus der Stadt und dann in Richtung Sonne bis zwölf«, wiederholt sie, »wir müssten also gleich …«
»Willst du damit sagen, dass es vollkommen egal ist, ob wir um sieben oder um halb zwölf losgegangen wären?«, hake ich nach und wieder nickt sie lächelnd.
»Genau so ist es. Ist das nicht toll? Das war wirklich ein ziemlich genialer Einfall vom Chef.« Aber mir ist jetzt überhaupt nicht nach Lobhudelei auf unseren Boss.
»Hatte es irgendeinen Sinn, dass wir hier stundenlang durch die Wolken gestapft sind?«, erkundige ich mich und sie nickt erneut.
»Aber ja.« Erleichtert atme ich auf. Ich war gerade kurz davor, echt wütend zu werden. »Du bist einfach wahnsinnig angespannt wegen der ganzen Sache und zu Hause hättest du doch nur stundenlang auf der Fensterbank gesessen und gegrübelt. Körperliche Ertüchtigung ist die beste Ablenkung in so einem Fall.«
» Körperliche Ertüchtigung?«, frage ich mit hochgezogenen Augenbrauen und sie lacht fröhlich auf.
»Touché! Das wird ja doch noch was mit deinem Humor«, lobt sie mich anerkennend. Empört öffne ich den Mund, als plötzlich eine fremde Stimme in meinem Kopf erklingt: »Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren.« Erschrocken klappe ich meinen Mund wieder zu und sehe mich verwirrt um. Aber sie ist meine Großmutter,
denke ich trotzig. »Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf dass es dir wohlergehe und du lange lebest auf Erden«, höre ich die Stimme erneut. Na, besonders lange war ich nun wirklich nicht auf der Erde. Zumindest nicht beim letzten Mal. Ob ich vielleicht deshalb so früh gestorben bin, frage ich mich unbehaglich, habe ich das vierte Gebot gebrochen? Aber eigentlich hatte ich immer ein gutes Verhältnis zu meinen Eltern. »Du sollst …« Ja doch, ich sage doch gar nichts.
»Kind, schau mal«, unterbricht Liesel meine Gedanken und ich sehe in die Richtung, in die sie zeigt.
Nur einige hundert Meter von uns entfernt steht ein gigantischer Turm, dessen Oberfläche in der Sonne golden und silbern funkelt. Mit offenem Mund stehe ich da und betrachte das schlanke Bauwerk, das plötzlich wie aus dem Nichts heraus erschienen ist. Es ragt bis hoch in den Himmel hinein und öffnet sich an der Spitze trichterförmig wie eine Blume im Sonnenschein.
»Sieht so aus, als wären wir am Ziel«, sagt Liesel fröhlich. »Los, komm!« Die Sonne steht jetzt an ihrem höchsten Punkt, also ist es zwölf Uhr. Omis Information stimmte tatsächlich. Ich kann es kaum fassen, dass es so einfach war, und ich in wenigen Minuten Gott gegenüberstehen werde. Ich sehe wieder hinauf zu dem glitzernden Turm und frage mich, ob Gott sich in diesem Moment wirklich darin befindet. Ganz oben, direkt unter dem strahlend blauen Himmel. Ob er in einem Thron aus schimmerndem Samt sitzt? »Du sollst dir kein Bildnis machen«, erklingt wieder diese Stimme, die eben schon einmal zu mir
Weitere Kostenlose Bücher