Allein auf Wolke Sieben
plötzlich ist die Versuchung zu groß. Ich stürze darauf zu und versuche, ihn zu öffnen, aber es gelingt mir nicht. Beide Hände kralle ich in den Deckel und zerre mit aller Kraft daran. Ich will mich zu mir legen, nichts mehr fühlen, nichts mehr wissen. Ich kann nicht weiterexistieren mit der Erinnerung an all die Gesichter, die ich heute von Trauer verzerrt gesehen habe, Michaels, die meiner Eltern, meiner Schwester und Freunde. Als ich merke, dass meine Bemühungen umsonst sind, raffe ich die Röcke meines Kleides und stürme hinaus auf den Vorplatz der Kirche, mitten in die Menschenmenge, die in diesem Moment die Luftballons gen Himmel steigen lässt. Getragen von einem blutroten Luftkissen fliege ich davon.
Ich öffne die Augen und schwöre, sie von nun an nicht mehr zu schließen. Nie mehr zu träumen. Ich liege wieder auf dem Fußboden meiner Wohnung, starre vor mich hin und frage mich, was eben geschehen ist. War das wirklich meine Beerdigung? Oder nur ein Traum? In diesem Moment spüre ich etwas in meiner Hand und sehe verwundert auf die weiße Karte mit Michaels Handschrift darauf:
»Es tut weh, denn du fehlst.
Aber eines Tages
reichen wir uns wieder die Hand,
und darüber bin ich heute schon glücklich.«
Liesels Stimme reißt mich unvermittelt aus meinen Erinnerungen. »Guten Morgen«, ruft sie zum offenen Fenster
herein, als ich mir gerade die Haare am Hinterkopf zu einem strengen Knoten zusammenstecke. Das kann ich nun überhaupt nicht finden.
»Geht so«, gebe ich deshalb knapp zurück und werfe ihr einen vorwurfsvollen Blick zu. Wie kann man nur so unsensibel sein? Wahrscheinlich hat sie schon wieder vollkommen vergessen, was für ein Tag heute ist, über all ihr Rumgeflirte mit Mozart, denke ich ungnädig, als sie zur Tür hereinkommt und mich besorgt von oben bis unten mustert.
»Wie siehst du denn aus?«, fragt sie kopfschüttelnd. »So schlimm?«
»Schlimmer«, sage ich düster.
»Aber du hattest dich doch schon so gut mit dem Gedanken angefreundet. Ich hatte wirklich den Eindruck, du hättest deinen Frieden mit der Situation gemacht.«
»Michael wird sterben, wie soll ich damit jemals meinen Frieden machen?«, frage ich und beginne gleich darauf wieder damit, mich selbst zu kasteien: »Das ist alles meine Schuld. Und wenn ich in den letzten sechs Jahren nicht auf der faulen Haut gelegen, sondern so wie du Seminare belegt und mich weitergebildet hätte, dann könnte ich etwas dagegen unternehmen. Stattdessen muss ich mich hinsetzen und einfach zusehen, wie er die tödlichen Dinger isst und dann langsam und qualvoll daran erstickt.«
»Und sonst würdest du …?«
»Natürlich«, unterbreche ich sie, noch bevor sie die Frage stellen kann, »ich würde es verhindern. Ich würde den Koch seine blöden Nüsse selbst essen lassen, bevor er damit Michael vergiften könnte.«
»Du würdest gegen Gottes Willen handeln?«
»Was heißt denn hier Gottes Willen? Sie wollte Michael doch noch gar nicht holen lassen. Auf die Idee ist sie nur durch meine hirnverbrannten Briefe gekommen. Ich möchte meinen Fehler wieder ausbügeln.« Flehentlich sehe ich sie von unten herauf an, und dann sprudelt es einfach so aus mir heraus: »Bitte, hilf mir. Komm mit mir nach unten. Gemeinsam können wir es verhindern.« Unsicher sieht sie mich an. »Ich weiß, es ist unmöglich, dass ich es von dir verlange, aber bitte, Omi, bitte.« In meiner Not falle ich sogar in die alte Anrede zurück, die ich seit langem nicht mehr gebraucht habe. »Du musst mir helfen!«
»Ich soll vorsätzlich gegen Gottes Auftrag handeln? Wie stellst du dir das vor?«
»Aber bei Andreas Seidel hast du doch auch gegen ihren Auftrag gehandelt.«
»Das war doch etwas vollkommen anderes. Ein Fehler in der Orga. Seelisches Versagen.«
»Wo liegt denn da der Unterschied?«
»Worin unterscheidet sich Mord von fahrlässiger Tötung?«, antwortet sie mit einer Gegenfrage und ich zucke wütend mit den Achseln.
»Keine Ahnung«, sage ich aufrührerisch, »die Folge ist jedenfalls bei beiden gleich. Ich würde dich ja nicht darum bitten, wenn ich es selber tun könnte. Aber ich kann es nun einmal nicht. Was würde denn schlimmstenfalls mit dir passieren?« Ratlos sieht sie mich an und hebt die Schultern.
»Nun, ich würde mit Sicherheit meine Zulassung als Schutzengel verlieren.«
»Das wäre schlimm«, gebe ich kleinlaut zu, doch sie schüttelt den Kopf.
»Damit könnte ich leben, aber was weiß ich, was sonst noch passieren würde?
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