Allein auf Wolke Sieben
Ich kenne niemanden, der es hier oben jemals gewagt hat, sich ihrem Willen zu widersetzen. Daraus schließe ich, dass solche Leute auf der Stelle eliminiert werden. So wie Adam und Eva damals. Zack und raus aus dem Paradies. Da wurde gar nicht lange gefackelt.« Unglücklich sieht sie mich an. »Versteh doch, ich würde dir wirklich gerne helfen, aber das Risiko ist zu hoch. Wer weiß, wo ich lande? Wer weiß, ob ich deinen Großvater dann jemals wiedersehe.«
»Natürlich, ich verstehe«, sage ich niedergeschlagen.
Kapitel 13
Bereits um kurz nach fünf sitze ich auf einer mit rotem Samt bezogenen Holzbank im Restaurant »Nola« im Hamburger Stadtteil St. Pauli und sehe mich um. Noch ist niemand hier, die Tische stehen einsam nebeneinander in der Dunkelheit, kein Laut durchdringt die Stille. Ich starre auf das Gemälde an der mir gegenüberliegenden Wand. Es zeigt zwei Engel in inniger Umarmung. Wenn die wüssten. Die Minuten ziehen sich quälend lang, um halb sechs höre ich, wie sich ein Schlüssel im Schloss dreht. Ein drahtiger Mann mit jungem Gesicht und bereits stark ergrauten Schläfen tritt ein, läuft zielstrebig zu dem gläsernen Tresen im hinteren Teil des Raumes und macht sich dahinter zu schaffen. Es wird hell, dann ertönt Musik. Ohrenbetäubender Rock der härtesten Sorte. Er dreht noch ein bisschen lauter und beginnt wild zuckend, seinen Arbeitsbereich für den Abend vorzubereiten. Ich presse mir die Hände auf die Ohren. Mir bleibt aber auch nichts erspart. Eine weitere halbe Stunde sitze ich in diesem Lärm, bis ich von einer jungen Blondine erlöst werde. Sie kommt herein, verdreht unmissverständlich die Augen und ruft: »Tom? Tom? Tom!!!!!« Der Angesprochene taucht hinter dem Tresen hervor und grinst sie unschuldig an.
»Ach, Melanie, hallo.«
»Hallo«, brüllt sie zurück. »Wärest du so nett?« Mit einem übertriebenen Seufzer macht er die Musik aus. Ich seufze auch. Erleichtert. Dankbar sehe ich Melanie an, die in ihrer Tasche kramend an mir vorbeiläuft und Tom eine CD reicht. Nun ist es an ihm, die Augen zum Himmel zu rollen.
»Nein, nicht schon wieder Josh Groban, das kannst du mir nicht antun.« Sie grinst und nickt.
»Und ob.«
»Der Typ ist so schmalzig, dass man ihn nur mit’ner Scheibe Brot ertragen kann«, stöhnt er, legt aber gehorsam die CD ein.
»Ich finde ihn toll«, sagt Melanie ein bisschen schnippisch, »und den Spruch hast du geklaut. Wie hieß der Film noch? Reality Bites?«
»Den kennst du Küken? Wie denn das? Du bist doch höchstens zwanzig!«
»Danke für die Blumen«, kichert sie und wird ein bisschen rot. Ich wünschte, sie würden mit der Flirterei aufhören. In diesem Moment betritt ein weiterer Angestellter den Raum und begrüßt die beiden: »’n Abend.«
»’n Abend«, erschallt es zweistimmig zurück. Ich starre den Neuankömmling an: von grauen Locken umkränzte Halbglatze, blaue Augen und für einen Mann ausgeprägt volle Lippen. Klein und mager ist er, genau das Gegenteil von dem, wie man sich einen Koch vorstellt, und dennoch bin ich mir hundertprozentig sicher, dass er genau das ist. Der Koch. Michaels Henker. Mir läuft ein kalter Schauer den Rücken hinunter und während ich beobachte, wie er durch die Tür neben dem Tresen in der Küche verschwindet, frage ich mich, wie es
ihm wohl heute Abend gehen wird, nachdem jemand an seinem Essen gestorben ist. Bestimmt nicht gut. Auch wenn er streng genommen natürlich gar nichts dafür kann. Trotzdem wird es ihn belasten.
Gegen halb sieben beginnt sich das »Nola« langsam mit den ersten Gästen zu füllen. Die Tische sind edel, aber schlicht eingedeckt mit hauchdünnen Weingläsern, blütenweißen Servietten und schlanken, weißen Kerzen in silbernen Haltern, die den Raum in ein warmes Licht tauchen. Während Melanie und ihre Kollegin Sandra, die zu spät und völlig außer Atem vor wenigen Minuten angehetzt kam, die Getränkebestellungen aufnehmen, legt Tom mit sichtlichem Widerwillen klassische Musik auf. Da ich mehrere Male meinen Platz räumen muss, lasse ich mich schließlich auf einem der ebenfalls samtbezogenen Barhocker nieder und sehe Tom dabei zu, wie er aus püriertem weißem Pfirsich und Prosecco Bellinis mixt, die Melanie in hohen Gläsern an einen Tisch mit drei weiblichen Gästen bringt, die gut gelaunt anstoßen. Neidisch beobachte ich, wie sie den ersten Schluck nehmen. Plötzlich erfasst mich eine unbeschreibliche Sehnsucht danach, das prickelnd-süße Getränk auf der Zunge
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