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Allein die Angst

Allein die Angst

Titel: Allein die Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louise Millar
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und Blut. Wenn Verwandte sich nicht umeinander kümmern, wer denn sonst? Vor allem seine eigenen Kinder schickt man nicht einfach weg, als wären sie nichts wert. Kinder sind nicht wertlos. Kinder sind kostbar.
    Suzy ging zu einem alten Küchenschrank, der auf den Gehweg ausgesetzt worden war, und trat mit solcher Gewalt dagegen, dass die Seitenwand zersplitterte.
     
    Gott, war es schwer, hier beim Laufen mal so richtig ins Schwitzen zu kommen! Nach fünf Minuten erreichte Suzy den Eingang zum Park, bog ein und begann den steilen Hügel hochzusteigen. Ein gutes Gefühl. In London gab es nicht genug Platz, um Sehnen, Muskeln und Haut zu dehnen, nicht genug saubere Luft, um die Lungen mit tiefen Atemzügen zu erfrischen. Es gab keinen weiten Himmel, wo die Augen Ruhe fanden, nur eine niederdrückende graue Schmutzdecke. Nie hatte man länger als eine Minute freie Bahn, um auszuschreiten, dann wurde man von Kinderwagen, Gehwegradlern und angeleinten Hunden blockiert. Ununterbrochen wurden die Straßen aufgerissen, und Geländewagen zwängten sich durch die schmalen Fahrbahnspuren, die die Straßenarbeiter übrig ließen.
    Suzy beugte sich dem steilen Hang noch weiter entgegen, um die Dehnung zu spüren.
    Dann blieb sie stehen.
    Vor ihrem inneren Auge stieg wieder das Bild der alten Frau bei der Northmore-Klinik auf. Suzy schüttelte heftig den Kopf, um es zu vertreiben.
    Diese Beine. Diese schrecklichen Beine. Diese fetten, fleischigen Beine.
    Und jetzt der Brief ihrer Schwester.
    Kein Wunder, dass sie in der Nacht aufgewacht war, nach Luft ringend.
    Sie versuchte, die Bilder aus ihrem Kopf zu verscheuchen, indem sie immer weiter nach oben hetzte, vorbei am Wildpark, am Ententeich, bis hin zum Skatepark unter der düsteren Palastmauer, wo zwei Skater auf ihren Boards über Rampen und Hindernisse bretterten.
    Sie blieb kurz stehen, um Luft zu schöpfen. Die Jungs, dankbar für jedes Publikum, wischten sich die Haare aus den ernsten Gesichtern und legten sich extra ins Zeug, rissen die mageren Knie hoch und ließen die Boards nur so wirbeln. Der Dunkelhaarige erinnerte sie an Henry. Im Nu würde Henry so alt sein wie er. Nur lebte dieser Junge immer noch zu Hause. Er würde in ein paar Minuten den Park verlassen, mit einem muffeligen »Hi« die Haustür aufstoßen, widerwillig ein Küsschen von seiner Mutter über sich ergehen lassen und sich dann nach oben in sein Zimmer verziehen, ein Zimmer, das nach Schweißfüßen und schimmligen Tassen roch und seine Teenie-Geheimnisse barg. Ein Zimmer, in dem er sich sicher fühlte. Henry aber wäre längst von zu Hause fort und zu einem kleinen Jez zurechtgestutzt; mitten in der Nacht würde er seine Heimwehtränen und die Sehnsucht nach seiner Mutter in einem Schlafsaalkissen ersticken.
    »Nein«, stöhnte Suzy leise.
    Es hatte keinen Zweck. Die Erinnerung an diese Beine ließ sie nicht los.
     
    »Mum, wo fahren wir hin?«, hatte sie an jenem heißen Nachmittag gefragt. Der rissige Ledersitz im schmutzigen alten Buick des Mannes verbrannte ihr die Kniekehlen. Die Nachmittagshitze im sommerlichen Colorado verdichtete den Ölgestank im Auto, dass Suzy schwindlig wurde. Sie schubste den Haufen farbverspritzter Kleider und schwarzverschmierter technischer Handbücher auf dem Rücksitz zur Seite und versuchte, sich höher aufzurichten.
    Als ihre Mutter nicht antwortete, warf sie einen raschen Blick zu dem Mann.
    Er erwiderte ihren Blick im Rückspiegel. Seine Augen erinnerten sie an Banditen in Cowboyfilmen.
    »Wo fahren wir hin?«, fragte sie und betrachtete durch die staubigen Scheiben eine Gegend, die sie nicht kannte. Das sah nicht aus wie der Weg zum Laden, wo man Eis kaufen konnte. Die Straße, in die sie einbogen, war breit und still. Brennnesseln wuchsen vor den einstöckigen Häusern. Der hellgraue Straßenbelag sah aus, als wäre er in der Sonne ausgetrocknet und rissig geworden. In einem Vorgarten standen lauter rostige Autos und Motorräder, dazwischen eine amerikanische Flagge. Im Fenster hing das verblichene Bild eines Gewehrs, darunter war geschrieben: »Vorsicht vor dem Eigentümer!« Als der Mann in die Einfahrt eines kleinen Hauses mit abblätternder Farbe und einer baufälligen Veranda fuhr, sank sie tief in den Sitz.
    Ihre Mutter machte die Tür auf. »Komm mit«, sagte sie und nahm Suzy an der Hand. Suzy warf einen Blick zur Seite und sah, dass der Mann eine Tasche aus dem Auto nahm. Das lange Vorderbein ihres rosa Panthers baumelte heraus. Wie hypnotisiert

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