Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Allein die Angst

Allein die Angst

Titel: Allein die Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louise Millar
Vom Netzwerk:
Ort.
     
    Ich hasse diese Klinik. Alle Krankenhäuser. Ich hasse die blöden Plastikstühle mit den fürchterlichen Lehnen, die in den Rücken schneiden. Die Gerüche. Die Untergangsstimmung. Den Kaffee mit seinem Chlorgeschmack.
    Finster schaue ich mich in der Ambulanz um und frage mich, wie oft Tom und ich schon mit Rae hierhergerast sind, zu jeder Tages- und Nachtzeit, voller Panik, dass sich das kleinste Schniefen und Husten zu einer Katastrophe auswachsen könnte. Diese Klinik hätte einfach unsere Geburtsklinik sein sollen, in der Rae zur Welt kam, in der wir ein, zwei Tage bleiben würden, bis wir nach Tufnell Park zurückkehrten und es mit unseren neuen Herausforderungen aufnähmen, nachdem wir völlig unerwartet Eltern geworden waren.
    Rae war so normal, dass wir nur das kleine Einmaleins der Babypflege zu lernen brauchten – sie zwischen den winzigen Falten ihrer Kniekehlen zu waschen, ihr vorsichtig die winzigen Nägel zu schneiden.
    Wie lange ging das so? Zwei Wochen? Dann spazierten wir mit ihr auf dem Arm zum Café an der Ecke hinüber, weil wir es in der Wohnung nicht mehr aushielten und einfach mal raus mussten. Im hellen Tageslicht bemerkten wir plötzlich, wie blass und schlaff Rae mir im Arm hing, und da fiel mir auf, dass sie seit Stunden nicht mehr getrunken hatte. Eine Frau im Café, die selber drei Kinder hatte, riet uns, gleich in die Ambulanz zu fahren.
    »Sie hat einen Herzfehler«, sagte der Arzt; er hatte keine Zeit, uns die bittere Pille zu versüßen. »Eine Aortenstenose – eine Verengung der Hauptschlagader.«
    Nun überschlugen sich die Ereignisse, dass ich mich gar nicht erinnern kann, wann ich mich so richtig in Rae verliebt habe. Ich empfand nur noch ein überwältigendes, instinktives Bedürfnis, sie am Leben zu erhalten, unterbrochen von Momenten herzzerreißender Trauer, was wir alles mit ihr vielleicht nie erleben würden. Dass ich nie sehen würde, ob sie von meinen Locken verschont bliebe, die mich so oft zum Wahnsinn trieben. Dass sie nie als Teenie bei mir im Schlafzimmer sitzen würde wie ich bei Mum, mit der ich lange Gespräche über Jungs führte, während sie die Wäsche zusammenlegte. Besonders bedrückte mich, warum auch immer, der Gedanke, dass Rae vielleicht nie Sex haben würde.
    »Das Medikament öffnet die Arterie nicht ausreichend, deshalb müssen wir operieren«, sagte der Arzt. »Wir schieben durch die Leiste einen Schlauch in die Oberschenkelarterie, mit einem Ballon, den wir dann aufblasen.«
    Wie betäubt gaben wir beide unserer Einverständnis. Wir hatten noch nie in unserem Leben eine Hypothek aufgenommen, keiner von uns hatte sein Testament gemacht. Und jetzt sagten wir einem Herzchirurgen, was er machen solle.
    »Auch danach wird es nicht einfach sein«, sagte er schonungslos. »Sie wird regelmäßige Kontrolluntersuchungen brauchen und vor Schulbeginn eine Operation, um die Arterie zu reparieren.«
    »Gibt’s auch gute Nachrichten?«, fragte Tom mit stockender Stimme.
    Ich erinnere mich, dass ich die Augen schloss und mich eine Sekunde lang in die Vergangenheit zurückwünschte, als das alles noch nicht passiert war. Ich wünschte mir, dass ich in meiner alten Bude in Islington vor dem Fernseher saß und überlegte, ob ich mit Sophie ins Pub gehen sollte. Ich wünschte mir, dass mir Tom nie begegnet wäre.
    Dann schlug ich die Augen wieder auf und bemerkte, wie er Rae ansah, die im Brutkasten lag, einen Schlauch in der Nase. Das Wunderkind, das zur Welt kam, obwohl er geglaubt hatte, er könne nie ein Kind zeugen. Ihr Herzschlag tönte durch den Behandlungsraum, nicht das dumpfe Pochen wie in meinen Träumen, sondern ein blechernes, dünnes Piepen. Ich ging zu Tom hinüber und schlang die Arme um ihn.
     
    Nach zwei Stunden erscheint endlich Dr. Khan und beginnt Rae zu untersuchen. Ich habe mit den Jahren gelernt, Dr. Khans Miene zu entziffern. Eine Anspannung in den Wangen unterhalb der Augen? Dann hat er schlechte Nachrichten für uns wie bei unserer ersten Begegnung. Verräterisch auch das leise Rascheln seines weißen Mantels. Fliegen die Schöße, wenn Dr. Khan auf uns zukommt, dann weiß ich, dass er in Eile ist und nur Zeit für die notwendigsten Informationen hat, aber nicht für beruhigende Worte. Heute aber fällt der Mantel locker um seine Knie. Er entfernt sich einen Schritt von Rae und lächelt mich an, was er nur selten tut; dabei entblößt er unter seinem dicken Schnauzbart kurze, jungenhafte Zähne. Der Anblick ist so

Weitere Kostenlose Bücher