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Allein die Angst

Allein die Angst

Titel: Allein die Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louise Millar
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ich die meisten Sachen stopfe, die ich später ordnen und abheften will. Ich ziehe eine Schublade auf und starre entgeistert hinein. Alles ist aufgeräumt. Debs hat meine ganze Wohnung durchgekämmt, hat alle herumliegenden Fotos, die sie finden konnte, aufgesammelt und sortiert. Manche hat sie in Rahmen gesteckt oder an den Kühlschrank geklemmt, den Rest hat sie in kleine Fotobücher geschoben und ordentlich in die Schublade gelegt. Ich blättere das erste Buch durch. »Rae als Baby« steht in hübscher Schrift auf dem Umschlag. Mir wird schlecht.
    Rasch gehe ich die Küche durch und kontrolliere sämtliche Schubladen, Schränke und Oberflächen. Es ist unglaublich. Büroklammern und Haargummis sind auf Untertellern gesammelt, Stifte mit Gummiringen gebündelt. Fällige Rechnungen stecken in einem alten, vom Vormieter hinterlassenen Briefständer, der über dem Telefon an die Wand geschraubt ist. Die Briefe der Schule hat Debs aus den Stapeln auf der Arbeitsplatte herausgezogen und sauber an die Pinnwand geheftet, von der sie alte Klinikbriefe entfernt hat, die ich vergessen habe wegzuwerfen. Diese Briefe sind säuberlich in einem Pappordner mit der Aufschrift »Medizinisches« abgeheftet.
    »Medizinisches?«, denke ich. Sie hat unsere private Korrespondenz gelesen.
    »Verdammt nochmal, das ist ja die Höhe!«, fluche ich laut vor mich hin. Ich gehe ins Wohnzimmer. In einem Marmeladenglas stehen altrosa Pfingstrosen auf dem Sofatisch, der von den überall in meiner Wohnung sprießenden Stapeln befreit und auf Hochglanz poliert wurde. Sogar die Bodenleisten sehen heller aus, als hätte Debs sie gewischt. Hinten an der Tür hängt, in hübschen, bunten Papierrahmen, eine kleine Ausstellung von Raes besten Zeichnungen.
    »Unglaublich!«, rufe ich. »Welche Unverfrorenheit!«
    Ich rufe das, weil ich weiß, dass ich so empfinden sollte. Ich sollte mich durch die unzähligen Übergriffe verletzt und beschämt fühlen.
    Aber eigentlich wollen Tränen in mir aufsteigen.
    Rae kommt lächelnd herein. »Mein Kissen riecht nach Erdbeeren«, sagt sie. »Kann es immer so riechen?«
    »Hm. Keine Ahnung«, brumme ich. Wenn ich unser Bettzeug wasche, riecht es nach nichts weiter als nach heißen Heizkörpern.
    »Es ist, wie wenn Grandma aus dem Himmel gekommen wäre und alles für uns aufgeräumt hätte.«
    Ich wirble herum.
    Rae mustert mich, wie ich auf ihre Bemerkung reagiere.
    Vor allem bin ich schockiert. Ich habe es noch nie jemandem eingestanden, aber manchmal, wenn Rae und ich abends in unsere kalte, dunkle Wohnung zurückkehren, tue ich, als würde meine Mutter dort auf uns warten. Sie hat aufgeräumt und einen Braten für uns ins Rohr geschoben. Der Tisch ist gedeckt, und sie begrüßt uns mit einer Umarmung. Und ich lasse mich an sie sinken und weiß, dass sie mir in den nächsten paar Stunden die drückende Verantwortung abnehmen wird. Dass sie Rae für mich ins Bett bringen und ihr richtig vorlesen wird – im Gegensatz zu mir, die jede Geschichte so schnell wie gerade noch vertretbar herunterhaspelt. Dann wird sie mir das Essen servieren, sich zu mir setzen und mir zuhören, wenn ich ihr erzähle, wie viel Angst ich davor habe, Rae zu verlieren. Und sie wird mich ausreden lassen, bis ich alles bei ihr abgeladen habe, und mich dann fragen, was ich meiner Meinung nach tun sollte. Sie wird mich selbst Lösungen finden lassen wie damals, als Kieran Black mich wegen Jane Silvering sitzenließ. Da gründete ich mit zwei Jungs von der Schule eine Band und merkte bald, dass es viel mehr Spaß machte, in unserer Scheune Blondie-Songs zu proben, als mit Kieran an der Bushaltestelle unseres Dorfs rumzuknutschen – eklig, seine nassen Küsse. Oder als ich in der zehnten Klasse durch die Mathe-Abschlussprüfung gerasselt bin, hat sie mir ein einwöchiges Praktikum in einem Tonstudio in Lincoln vorgeschlagen. Danach war ich wild entschlossen, die Nachprüfung zu bestehen und so schnell wie möglich Tontechnik zu studieren.
    Ja, wenn Mum hier wäre. Womöglich fände ich dann Zeit und Ruhe, um alles selbst zu lösen. Fände eine Perspektive für mich. Und hätte Tom vielleicht nie verloren.
    Mir fällt etwas ein. »Rae, du weißt doch, dass Grandma und ich früher am Freitag immer ein Mitternachtsfest gefeiert haben wie jetzt wir beide?«
    Sie nickt.
    »Wir haben auch noch andere Sachen gemacht.«
    »Was denn?« Sie horcht auf. Ihre Augen sind heute lebhaft, blitzen wie die Sonne auf dem Karibischen Meer.
    Ich gehe zur Schublade,

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