Allein die Angst
ziehe die Fotopacken heraus, die Debs so ordentlich verstaut hat, und lege sie auf den Fußboden. Dann suche ich in meinem Zimmer nach den Fotoalben, die ich bei Raes Geburt geschenkt bekommen, aber nie benutzt habe.
»Jetzt pass auf, was Grandma und ich früher gemacht haben: Wir haben unsere Familienfotos in Alben geklebt und lustige Geschichten dazu geschrieben. Das ist dann unsere Familiengeschichte geworden.«
»Die Alben hab ich in Opas Haus gesehen«, ruft sie aufgeregt.
»Gut.«
Wir beginnen mit den frühesten Fotos von ihr. Nachdem Debs sie zusammengesucht hat, staune ich, wie viele wir davon haben. Alle wurden von Tom aufgenommen; ich selber habe mich geweigert. Habe versucht, ihn zu bremsen, aber er meinte, wir sollten Rae unbedingt fotografieren, falls wir sie verlieren würden. Dann hätten wir später eine Erinnerung, wie weit sie sich entwickelt hat.
Rae greift nach einem Foto von sich, als sie ungefähr drei war, aufgenommen nach ihrer großen OP , in der die Stenose endgültig beseitigt wurde. Kaye sitzt bei ihr auf dem Bett; Rae hält ein Schälchen und grinst.
»Hm, was sollen wir denn dazu schreiben?«, frage ich sie.
»Wir könnten schreiben, dass mein Lieblingsessen im Krankenhaus Eis mit Wackelpudding war.«
»Das stimmt!«, sage ich erstaunt. »Das habe ich ganz vergessen. Und Kaye hat dir eine Extraportion gebracht, damit du dich freust – das könnten wir doch schreiben, oder?«
»Mum«, beginnt Rae, »als Grandma gestorben ist, wer hat dann für Grandpa gesorgt?«
Ich blicke zu den Fotos hinunter.
»Hm. Omas Schwester, Tante Jean, nehme ich an, und ein paar von Omas Freundinnen, und die Nachbarn.«
Sie wartet. Ich spüre ihr Zögern und überlege, ob ich noch mehr sagen soll.
»Du nicht?«
Ich lege die Fotos hin.
»Nein. Nicht sehr viel.«
Sie fasst mich an der Hand, und ich blicke auf.
»Weißt du, Rae, Grandma ist eine Woche nachdem ich meine neue Arbeit in London angefangen hatte gestorben. Und ich war eben erst mit Sophie in unsere neue Wohnung eingezogen. Vielleicht hätte ich damals zurück nach Hause fahren und mich um Grandpa kümmern sollen, aber ich wusste nicht, was ich tun sollte. Deshalb habe ich gewartet, ob er mich bittet, zu ihm zu kommen, aber das hat er nicht getan. Und da bin ich eben nicht hingefahren.«
»War Grandpa sehr traurig?«
Erinnerungen an das dunkle, kalte Jahr, über das Dad und ich nie reden, strömen zurück. »Ich glaube schon. Und jetzt glaube ich auch, ich hätte einfach zu ihm hinfahren sollen, aber damals habe ich Dad nicht gefragt. Auch ich war sehr traurig, aber es hat mir geholfen, dass ich in London war und meine neue Arbeit hatte.«
»Aber dann bin ich auf die Welt gekommen und war krank. Und du musstest dich um mich kümmern.«
Ich starre sie an, während mir langsam die ganze Tragweite ihrer Worte aufgeht.
»Aber nein, Rae!«, rufe ich und ziehe sie so eng an mich, dass ihre Haare und meine sich zu einem einzigen Wust mausbrauner Locken vermengen, wie früher Mums und meine. »O Gott – so siehst du das also? Rae! Das darfst du niemals denken! Nichts macht mich glücklicher, als für dich zu sorgen und alles zu tun, damit du gesund wirst. Das Allerwichtigste für mich bist DU – nicht meine Arbeit, und auch nichts anderes.«
Ich schaukle sie vor und zurück, als wäre sie wieder ein Baby, und frage mich, was ich mir bei dem Ganzen eigentlich gedacht habe. Die Sonne schickt blaue Strahlen durch die von Debs blitzsauber geputzten Fenster.
Kapitel 31 Suzy
Erst fiel ihr der blaue Umschlag gar nicht auf. Er war gestern in den Drahtkorb gefallen, der hinter dem Briefschlitz an der Haustür montiert war, und hatte seither dort gelegen. Normalerweise sortierte Jez die Post und zog die Geschäftsbriefe heraus, um sie nach oben ins Büro mitzunehmen, aber gestern war er spät aus Birmingham zurückgekommen, was er, genau wie vermutet, auf verspätete Züge schob. Vondra recherchierte gerade bei der Bahngesellschaft, außerdem war sie Michael Roachley auf den Fersen. Suzy tigerte im Haus herum und wartete mit Bauchgrimmen auf eine Nachricht von ihr.
Dass sie den blauen Brief überhaupt bemerkte, lag an dem weißen Brief, der heute früh mit der übrigen Post darauffiel. Ein weißer Umschlag mit einer amerikanischen Briefmarke. Die Adresse war mit der Hand geschrieben, die Briefmarke zeigte einen weißen Berg und einen Skifahrer, der über einen Buckel hoch in die Luft sprang.
Beim Anblick des Bergs bekam Suzy Magenkrämpfe
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