Allein die Angst
vor Heimweh nach der weiten Landschaft zu Hause. Sie fühlte sich in der langen, schmalen Diele ihres viktorianischen Reihenhäuschens eingesperrt, von der Beengtheit der Räume erstickt. Die Handschrift war die ihrer Schwester. Stirnrunzelnd fischte Suzy den Brief heraus und öffnete ihn. Warum ließ Faye sie nicht in Ruhe? Wahrscheinlich die üblichen Neuigkeiten über ihre Kinder und Denver, abgefasst im fröhlich-biederen Hausfrauenstil mit Ausrufezeichen haufenweise. Nein, nach Faye hatte sie absolut keine Sehnsucht.
Suzy nahm den Brief ihrer Schwester aus dem Umschlag und warf ihn ungelesen in die Recyclingkiste. Faye konnte ihr gestohlen bleiben.
Aber die Briefmarke würde sie an den Kühlschrank klemmen und den Jungs zeigen.
Sie öffnete die Klappe des Briefkorbs. Fünf weitere Briefe fielen heraus, dazu ein paar Werbeprospekte und eine Lokalzeitung. Sie sortierte die Post. Die üblichen braunen Umschläge mit aufgedruckter Adresse für Jez, zwei Rechnungen, ein Kinderkatalog, den sie bestellt hatte, um den Jungs noch ein paar Sommersachen zu kaufen, ein Spendenaufruf und ein Brief in einem blauen Umschlag.
Sie musterte ihn – war es ein geschäftlicher oder ein privater Brief?
Der Name vorn auf dem Umschlag jagte ihr einen kalten Schauer über den Rücken.
Sie reckte den Hals und sah hinauf, ob Jez noch in seine Arbeit vertieft, ob die Bürotür noch geschlossen war. Sie sortierte die restliche Post in Haufen, nahm den blauen Umschlag und setzte sich auf die unterste Treppenstufe. Wieder betrachtete sie ihn. Sollte sie? Erwartete er diesen Brief? Nervös schob sie einen Fingernagel unter die Klappe und schaffte es, sie behutsam von dem Klebestreifen zu lösen. Innen lag ein Brief, ebenfalls auf blauem Papier geschrieben.
Sie nahm ihn heraus und strich ihn glatt.
Durch die Wand hörte sie eine altmodische Uhr mit langen, bedächtigen Schlägen zwölf Uhr Mittag schlagen.
Beim vierten Schlag dachte sie, dieser Brief wäre versehentlich an sie geschickt worden. Beim neunten Schlag wurde ihr klar, dass es doch kein Versehen war.
Beim zwölften Schlag blickte sie hoch, und alle Puzzleteile fielen an den richtigen Platz, mit einem Poltern, von dem ihr übel wurde.
Sorgfältig faltete sie den Brief wieder zusammen, schob ihn tief in ihre Jeanstasche und ging mit dem Telefon auf zittrigen Beinen in die Küche. Sie wählte.
»Vondra?«, flüsterte sie.
»Suze? Hi, ich wollte Sie gerade anrufen.« Vondras warme Sirupstimme hatte einen neuen, triumphierenden Unterton. »Ich habe gerade herausbekommen, wer Michael Roshlé ist. Und das ist noch nicht alles.«
Kapitel 32 Callie
Ich schaue in unseren leeren Kühlschrank und überlege, ob ich Tom bitten soll, etwas für mich und Rae zum Abendessen rüberzubringen.
In welcher Laune wird er heute Nachmittag sein?
Es klingelt, und ich höre Rae hochspringen und zum Fenster laufen.
»Aunty Suzy«, ruft sie mir zu und setzt sich wieder auf das Sofa.
Ich öffne die Tür. Zum ersten Mal, seit ich Suzy kenne, ist ihr das Lächeln abhandengekommen. Ihr Gesicht sieht verhärmt aus, ihre Augen sind gerötet, als hätte sie geweint.
»O Gott, was ist denn los?«, frage ich erschrocken.
Sie schüttelt den Kopf.
»Ach, nichts.«
Ihre Gesichtsmuskeln zucken, sie kämpft mit sich, um ihre Gefühle in den Griff zu bekommen. Trotzdem laufen ihr die Tränen herunter. Ich bekomme Herzklopfen und führe sie herein.
Die ganzen zwei Jahre habe ich sie noch nie so gesehen.
»Suzy, was ist denn?«
Sie wischt sich über die Augen.
»Tut mir leid. Es hat was mit Jez zu tun.«
»Mit Jez?«
»Und seinem Vater.«
»Ach so. Okay«, sprudle ich erleichtert hervor.
Sie sieht mich fragend an.
»Ich dachte schon, ich wäre schuld. Du weißt schon – ich war gestern ein bisschen krätzig.«
Sie schüttelt den Kopf und legt mir unter Tränen die Hand auf den Arm. Ich bin von dieser neuen Suzy fasziniert und kann den Blick nicht von ihr wenden. Sie ist so offen. Dünnhäutig. Nicht mehr so verdammt nüchtern. Wie anders hätte sich alles entwickeln können, wenn Suzy von Anfang an so gewesen wäre. Hätte sie mir ihre Verletzlichkeit, ihre Schwächen gezeigt, dann wären wir uns vielleicht nähergekommen. Hätten vielleicht echte Freundinnen werden können. Und ich hätte vielleicht gleich die Katze aus dem Sack lassen und sagen können, wer ich wirklich bin.
»Rae, schau mal, was Henry dir schickt!« Suzy streckt den Kopf ins Wohnzimmer und hält Rae die Disney- DVD hin,
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