Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu
Tempel, genannt Barkhor, ist mit Granitplatten aufgepflastert und wie der größte Teil der Altstadt für den Autoverkehr gesperrt. Hier wie auch auf der Pilgermeile rund um den Jokhang reihen sich Hunderte mobiler Ramschstände aneinander, hinter denen Tibeter stehen und Perlenketten aus Türkis und Plastik anbieten, Anhänger aus falscher Jade, rote Schweißbänder, Spangen, auf Antik getrimmte tibetische Masken, bunte Tücher, ausziehbare Mönchsposaunen und DVDs, wahlweise «Tibet – A Wonderland» oder «Holy Land Tibet». Nur wenn man sich weiter vom Barkhor entfernt, kann man in den Läden auch Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände finden: Steigbügel, Goldzähne, die die Tibeter mit Stolz tragen, Solarzellen für die Stromversorgung auf dem Land, Gaskocher und sogar Yakfleisch, an dem noch ein Stück Fell klebt, um zu beweisen, dass das Fleisch auch wirklich vom Yak ist. Auch mit Bildern vom verstorbenen Panchen Lama wird überall gehandelt und mit Fotos von lebenden, über beide Backen strahlenden Buddhas. Ich entdecke auch ein Foto des aktuellen Dalai Lama, den zu zeigen in China eigentlich verboten ist. Der Trick: Es ist eine historische Aufnahme, die den jungen Dalai Lama zusammen mit Mao Tse-tung in Peking zeigt. Dagegen kann wohl keiner etwas sagen.
Vom Barkhor aus in Richtung Westen erstreckt sich die Fußgängerstraße Yu Tuo Lu, die in die chinesisch geprägte Neustadt führt. Am Straßenrand stehen bunte Palmen aus Plastik, und in den großen Shoppingmalls gibt es dasselbe Souvenir-und Schmuckprogramm wie an den tibetischen Buden. Ein Sonderpostamt verkauft Briefmarken und Postkarten, weiter die Straße hinab gibt es Modeboutiquen, die Tony Wear und Bossini heißen, im Kinocenter läuft der neue Harry Potter, und wieder zurück Richtung Barkhor kann, wer mag, Hamburger in einem Restaurant der Dicos-Kette essen.
Aus dem Rahmen fallen allerdings die unzähligen Pilger, die aus ganz Tibet und den benachbarten Provinzen in die Stadt strömen oder besser: robben. Es sind junge Frauen darunter mit dunklen Gesichtern, sie tragen braune Tracht und altmodische Potthüte, dann Männer mit Cowboyhüten, Alte, Junge, Kinder. Sie umkreisen ohne Unterlass den Jokhang-Tempel und schwatzen, singen, lachen dabei oder lassen unablässig ihre Handgebetsmühlen kreisen. Manche werfen sich auch hier noch alle drei Schritte zu Boden. Ich beobachte ein vielleicht zwölfjähriges Mädchen mit vor Schmutz starrenden Zöpfen, das offensichtlich vollständig dem religiösen Wahn verfallen ist. Von der dauernden In-den-Staub-Werferei hat sich eine ledrige Stelle auf ihrer Stirn gebildet. Andere werfen sich vor den Mauern des Jokhang-Tempels zu Boden, was seltsam klingende Wischgeräusche macht. Der tibetische Buddhismus ist auf jeden Fall nichts für Weicheier, sondern eine körperlich sehr anstrengende Religion.
Dass die Stadt ansonsten einen leicht sterilen und oberaufgeräumten Eindruck macht, ist wohl das Resultat einer rasanten Modernisierung, die in den letzten Jahren sowohl den chinesischen als auch den tibetischen Teil von Lhasa erfasst hat. Schuld daran sind sicher auch die, die diese Entwicklung am meisten bedauern, die Touristen nämlich. Auf meiner ganzen bisherigen Reise habe ich keine Stadt gesehen, die so von Touristen bevölkert ist wie Lhasa. Den größten Anteil stellen dabei junge Chinesen, unter denen in den letzten Jahren eine große Begeisterung für das «reine und unverfälschte Tibet» ausgebrochen ist. Aber auch eine große Menge Westler sind in der Stadt. Sie fliegen meist direkt nach Lhasa, was nur ein einziges Permit erfordert, das leicht zu bekommen ist. Sie kaufen ihren Ethnokitsch in Läden, die Karma Gallery oder Strange Magic Place heißen, saufen in der Lazy Bar und essen vorzugsweise in Restaurants, die eine chinesisch-tibetisch-indisch-nepalesische Mischmaschküche anbieten. Das Lustige ist, dass dies oft dieselben Leute sind, die, nach Hause zurückgekehrt, die Zerstörung der tibetischen Kultur und Identität beklagen.
Wie überlaufen Lhasa wirklich ist, wird mir vollends klar, als ich am dritten Tag meines Aufenthalts den Potala-Palast besuchen will. Das Kassenhäuschen ist verrammelt, obwohl erst Mittag ist. Ein tibetischer Wachmann erklärt mir, dass die Eintrittskarten für Touristen kontingentiert sind, weil sonst der Palast aus allen Nähten platzt. «Du kannst am Tag vorher nur Tickets für den nächsten Tag kaufen, die dann ab einer bestimmten Uhrzeit gültig sind. Aber
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