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Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu

Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu

Titel: Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Y. Schmidt
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ein Fünfsternehotel, und die Jugend isst bei KFC. Aus dem abgelegenen Provinznest mit gerade zweihunderttausend Einwohnern ist eine Millionenstadt geworden. An sich keine sonderlich bemerkenswerte Entwicklung, wenn es nicht gerade mal zehn Jahre her wäre, dass Hessler hier gelebt hat.
    Zu meiner Begrüßung ziehen schwarze Wolken auf, und es fängt wieder mal an, wie aus Eimern zu schütten. Ich checke in einem Hotel beim Busbahnhof ein und weiß schon jetzt, dass ich es in den nächsten Tagen nur zum Essen verlassen werde. Das liegt am Wetter, aber auch an den Erlebnissen der letzten Tage und Wochen. Ich fühle mich plötzlich ganz matt und ausgelaugt. Zum ersten Mal auf dieser Reise frage ich mich, ob mein ursprünglicher Plan nicht Blödsinn war: So nebenbei chinesisch zu werden geht wahrscheinlich selbst auf einer so langen Fahrt wie dieser nicht. Sollte ich nicht vielleicht mein ganzes Projekt aufgeben?
    Dagegen spricht, dass ich inzwischen schon ein gutes Stück in meiner Entwicklung zum Chinesen vorangekommen bin. Ich kann immer mehr sprechen und mich sogar auf Chinesisch streiten. Seit neuestem schmeckt mir sogar chinesisches Frühstück. Und vor ein paar Tagen habe ich bemerkt, dass sich mein Gang verändert hat. Ich haste nicht mehr durch die Gegend, sondern bewege mich immer mehr wie ein Chinese – im langsamen Schlenderschritt. Und überhaupt: Was wäre denn die Alternative? Weiter als Ausländer mit anderen Ausländern in Peking abhängen, um im Smoking mit Staatssekretären über Angela Merkels Chinapolitik zu diskutieren? Oder gleich zurück nach Berlin? Im Prenzlauer Berg wohnen, schlecht essen gehen, synchronisierte Filme gucken und einen auf digitalen Bohemien machen wie praktisch alle meine Freunde und Kollegen?
    Nein, das geht nun wirklich nicht, jedenfalls nicht mehr in meinem Alter. Außerdem erwarten meine Schwiegereltern schon seit einiger Zeit etwas Größeres von mir, eine Tat. Ich muss weiterfahren, etwas anderes kommt nicht in Frage. Den letzten Ausschlag gibt das Buch von Peter Hessler, das ich auf dem Hotelzimmer noch einmal lese. Der Autor hat zwei Jahre lang in Fuling gelebt, als einer von genau zwei Ausländern. Am Anfang hatte er dieselben Probleme wie ich. Er hat auch genauso reagiert. Um die Hello-Schreier nicht mehr zu hören, ist er praktisch nur noch mit Walkman in die Stadt gegangen. «Das war der einzige Weg», schreibt Hessler, «wie ich es aushalten konnte: Ich hörte die lauteste und aggressivste Rap-Musik, die ich dabeihatte – Dr. Dre, Snoop Doggy Dogg, die Beastie Boys. Nur so blieb ich bei Sinnen.» Der Unterschied zwischen mir und Hessler ist, dass ich einen iPod benutze und andere Sachen höre. Dabei kommen mir plötzlich viele Stücke so vor, als seien sie extra für China geschrieben worden oder sogar für mich auf dieser Reise: «To hell with poverty» von Gang of Four oder «Shameless» und «Too many people» von den Pet Shop Boys oder das Chinastück schlechthin, «Paranoid Android» von Radiohead. Das Bewundernswerte an Hessler aber ist, dass er trotz aller Widrigkeiten nicht aufgab. Und es hat sich schließlich ausgezahlt: Nach zwei Jahren allein unter Chinesen hatte er sich nicht nur ihren Respekt erworben, er konnte auch perfekt Chinesisch und schrieb obendrein eins der besten zeitgenössischen China-Bücher.
    Wenn ich aber weiterfahren will, muss ich wirklich ein paar Dinge ändern. Ich nehme mir vor, mich in nächster Zeit von allen Stätten des Aberglaubens, wie Höllen, Tempeln etc., fernzuhalten. Vor allem aber will ich die Sache mit dem Chinesischwerden entspannter angehen, denn das Auseinanderklaffen von Wunsch und Wirklichkeit ist wohl auch ein Grund dafür, dass ich gerade dieses Tief habe. Mit frischen Vorsätzen gewappnet, wage ich es nach zwei weiteren Tagen, mich in einen Bus nach Chongqing zu setzen. Der Bus fährt die rund hundert Kilometer über die Autobahn und durch kilometerlange Tunnel in gerade mal anderthalb Stunden. Vor zehn Jahren brauchte Peter Hessler für dieselbe Strecke noch fünfeinhalb. Damals musste er die Fähre nehmen, denn eine Autobahn war noch nicht gebaut.
    Um nicht in Chongqing das nächste Hoteldesaster zu erleben, miete ich mich im besseren Sanxia Hotel ein, zu deutsch das Drei Schluchten. Das Hochhaus steht an der Spitze der von den Flüssen Jialing und Jangtse eingeschlossenen Halbinsel, auf der die Innenstadt von Chongqing liegt. So kann ich aus meinem Zimmer im siebzehnten Stock direkt auf die Docks an den

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