Alleingang: Kriminalroman (German Edition)
in dieser Stadt wollte.
Glaubte sie wirklich, hier Antworten auf ihre Fragen zu bekommen? In ihrer Tasche brannte der schwarze Knopf, den Egon aus dem Schaltkasten entfernt hatte. Wer sollte ihr etwas dazu sagen können? Und vor allem: Wer in dieser grauen, armseligen Stadt sollte ihrem Mann helfen können, heil aus Afghanistan herauszukommen?
Im Hauptbahnhof, in dessen Tiefgeschoss sie noch wenige Tage zuvor mit Felix auf einen Zug nach Anklam gewartet hatte, stieg sie aus und nahm den Bus M 85. Sie hatte sich das zu Hause im Internet angesehen: Mit dem M 85, der gleich vor dem Haupteingang abfuhr, gelangte sie ohne Umsteigen bis zur Neuen Nationalgalerie. Von dort aus waren es nur noch wenige Gehminuten.
Sie fuhr am Reichstag vorbei, dessen Kuppel hell erleuchtet war. Trotz des Nieselregens, der inzwischen eingesetzt hatte, standen die Menschen auf der großen Treppe Schlange, um in das Gebäude zu kommen.
Am Potsdamer Platz bog der Bus rechts ab, und schon wenige Minuten später stieg Marie aus. Sie überquerte den Landwehrkanal und ging dann am Schöneberger Ufer entlang.
Sie fand das Haus auf Anhieb. Ein Gründerbau aus rotem Backstein mit weißen Balkonen. Ein schönes Gebäude. Das Portal war schwer, aus Glas und Stahl. Marie brauchte eine Weile, bis sie auf einem der blank gewienerten Messingklingelschilder den Namen entdeckte: Dr. Ernesto Breuninger. Psychotherapeut.
Sie drückte die Klingel. Nichts. Sie drückte ein zweites Mal.
Vielleicht hätte sie sich anmelden müssen. Jetzt erst fiel ihr ein, dass der Psychologe sie ausdrücklich darum gebeten hatte. Aber sie war doch kein Patient. Sie wollte sich nur mit diesem Ernesto unterhalten. Wollte wissen, was er über den Fall ihres Mannes dachte.
Marie drückte ein drittes Mal auf die Klingel.
Wie hatte sie nur so unbedacht sein können, diese Reise anzutreten, ohne sich vorher zu vergewissern, dass Dr. Ernesto Breuninger auch in seiner Praxis war? Irgendwie war sie davon ausgegangen, dass ein vielbeschäftigter Psychologe keinen freien Tag hatte.
Nun stand sie vor der Tür und niemand öffnete auf ihr Läuten.
Sie wollte gerade gehen, als eine ältere Frau mit einer Einkaufstasche durch den Flur kam. Marie wartete, bis die Frau das Haus verlassen hatte. »Entschuldigung, wissen Sie, wann der Psychologe Sprechstunde hat?«
Die Frau schaute sie groß an. Offensichtlich hatte sie nicht damit gerechnet, angesprochen zu werden. Sie war in Eile. Maries Frage passte ihr nicht. »Welcher Psychologe denn?«
Marie tippte auf Ernestos Klingelschild. »Der hier! Dr. Breuninger. 2. Stock Vorderhaus. Hier steht nirgendwo etwas von den Sprechstunden.«
»Der? Der schimpft sich bloß Psychologe.«
Marie bereute es, die Frau angesprochen zu haben. Sie hasste diese Berliner Kaltschnäuzigkeit. »Aber hier steht doch …«
»Was da steht, ist eine Sache. Aber dieser Breuninger, der ist nie und nimmer ein Psychologe.«
»Sondern?«
Die Frau schaute skeptisch. Sie bemerkte selbst, dass sie sich etwas weit vorgewagt hatte – einer Fremden gegenüber, die ihren Nachbarn Ernesto Breuninger womöglich näher kannte. »Also, ich habe bei dem noch nie einen Patienten gesehen.«
»Patienten?« Marie verstand nicht, was die Frau damit meinte.
Die Alte kam etwas näher und senkte ihre Stimme. »Psychologen, Ärzte und so. Die haben doch Patienten, oder?«
»Klar. Aber …«
»Der hier, der hat aber keine Patienten. Da kommt keiner. Jedenfalls habe ich noch keinen gesehen.«
»Vielleicht kommen die, ohne dass Sie sie bemerken.«
»Es kommt keiner! Wenn ich Ihnen das sage, können Sie mir das auch glauben, junge Frau. Ich sehe in diesem Haus alles.«
»Soll das heißen, dieser Breuninger wohnt gar nicht wirklich hier?«
Die Frau schüttelte heftig den Kopf. »Nein, nein. Der wohnt schon hier. Ich kenne den auch. Klein, dick, grauer Wuschelkopf.«
Das traf auf den Ernesto zu, der Marie auf Usedom aufgesucht hatte.
»Es kommen auch Leute zu ihm.«
»Na also.« Marie war an eine Schwätzerin geraten. Sie nickte freundlich und wandte sich zum Gehen.
»Aber das sind keine Patienten oder so was. Und wissen Sie auch, warum? Die tragen alle Uniform. Schneidige Offiziere sind das. Glauben Sie, in der Bundeswehr sind alle Offiziere gaga? Bestimmt nicht, was? Aber was ich mich immer frage: Was wollen alle die Herren in Uniform bei diesem ungepflegten Breuninger?«
20.
Die Sicherheitsmaßnahmen im Verteidigungsministerium waren sehr streng.
Vor allem für
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