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Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Titel: Aller Tage Abend: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny Erpenbeck
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schließlich gelb, als würden jene Entwicklungen, die ein totgeschlagener Mensch nicht mehr durchmachen kann, immerhin noch für kurze Zeit ersetzt durch diese Verwandlung der Farben. Damals standen die Prüfungen für seinen Teilabschluss im Wiegen und Messen unmittelbar bevor, mit dieser Begründung blieb er der Beerdigung fern, was dem Vater nur recht war. Irgendwo hatte er einmal gelernt oder gelesen, dass New York auf Felsen gebaut sei, und vielleicht ist das der Grund, dass er hier bleiben will, denn auf felsigem Grund kann er ganz sicher sein, dass er in keines Menschen, und schon gar nicht in seines Vaters, des Zollamtsoberoffizials, aber auch nicht in seiner furchtsamen Mutter Fußstapfen tritt.
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    E s ist jetzt so, dass die eine Hand weiß: Das Glied eines Mannes schmerzt nicht, auch wenn man es stärker drückt, es ist einfach ein Muskel. Eine andere Hand weiß schon lange, dass sie sich in Acht nehmen muss, wenn sie das Kascha im Topf mit Wasser begießt, denn das Wasser spritzt dann in die Höhe und verbrüht sie womöglich. Eine Hand greift täglich achthundertmal nach dem Hebel eines Bohrers und senkt ihn. Eine Hand wäscht die andre, eine Hand fährt sich durch die Haare, eine Hand wirft einen quarter in einen Gasmesser ein. Eine Hand zieht ein Tuch glatt, eine andere wischt Krümel vom Tisch, eine dritte schaltet das Licht ein. Augen sehen im Gegenlicht Staub, sehen in offene Männermünder hinein, sehen ein Kännchen mit Öl. Ohren hören, wie eine Tür zuschlägt, hören Sirenen, hören, wie jemand hustet, Füße fahren in Seidenstrümpfe, Ellenbogen werden gerieben, Zehnägel werden geschnitten, gefeilt und lackiert, Füße sind so zerbeult, dass sie nicht in die Schuhe passen, graue, schwarze und braune Haare, Ringe unter den Augen, Hornhaut, zwei müde Brüste, beinahe schon eine Glatze, Zahnweh, Zunge, eine Stimme wie Seide. Was unter anderen Umständen die Glieder einer Familie hätten sein oder werden können, ist nun so weit auseinandergerissen, dass eine Zerteilung mit Pferden dagegen wie nichts ist. Und dennoch denkt der, die oder jene manchmal hier, da oder dort denselben Gedanken: Wie still das Kind auf einmal war.

INTERMEZZO

H ätte aber zum Beispiel die Mutter oder der Vater in der Nacht das Fenster aufgerissen, hätte eine Handvoll Schnee vom Fensterbrett gerafft und dem Kind unters Hemd gesteckt, dann hätte das Kind vielleicht plötzlich wieder angefangen zu atmen, vielleicht auch zu schreien, jedenfalls hätte sein Herz wieder angefangen zu schlagen, seine Haut wäre wieder warm geworden, und der Schnee wäre an seiner Brust geschmolzen. Vielleicht wäre so etwas wie eine Eingebung notwendig gewesen, woher aber eine Eingebung hätte kommen können, wusste die Mutter nicht, und wusste auch nicht der Vater. Ein Blick aus dem nächtlichen Fenster auf den schimmernden Schnee oder allein das Knacken des Fensterrahmens, der sich in der Kälte zusammenzog, hätte vielleicht für eine Eingebung ausgereicht, der Laut des Fensters in der Kälte genau in dem Augenblick, als das Kind verstummte, statt derselbe Laut nur eine halbe Stunde später, als es zu spät war. Im Lyzeum hatte die Mutter gelernt, dass die Pythia auf die Frage des Lyderkönigs Krösus geantwortet habe: Wenn du den Halys überschreitest, wirst du ein großes Reich zerstören. Was aber die Pythia mit all den Antworten machte, um die niemand sie bat, hätte die Mutter des Säuglings nicht zu sagen gewusst, und auch nicht der Vater. Wahrscheinlich saß die Ewige ewig über den aus dem Innern der Erde aufsteigenden Dämpfen und schaute sich selbst dabei zu, wie ihr Schweigen wuchs und unmenschliche Ausmaße annahm. Hätten die Eltern eine Eingebung gehabt, wäre das Überleben des Kindes das geworden, was wahr war. Das ganze Geflecht des Lebens – alles Wissen über Schnee, alle Blicke aus dem Fenster, alles Lauschen auf die Geräusche des kalten und feuchten Holzes – hätte die eine Wahrheit von der anderen für immer geschieden. Nur an die bläuliche Farbe der Haut, vor allem um des Mädchens Mund- und Kinnpartie herum, hätten die Eltern eine ungeliebte Erinnerung behalten. Eine Erinnerung, die ihnen dann und wann ungewünscht in den Sinn gekommen wäre, und der eine hätte es dem andern nicht gesagt, aus Angst, das Schicksal herauszufordern. So wäre das Schicksal still geblieben, und der erste Moment, in dem das Kind hätte sterben können, wäre ohne viel Aufhebens vorübergegangen.
    Das Kind hätte an der Hand

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