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Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Titel: Aller Tage Abend: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny Erpenbeck
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der Mutter laufen gelernt, sein erster Weg: vom Schrank bis zur Truhe; die Urgroßmutter hätte ihm Zöpfe geflochten und dabei ein Liedchen gesungen: von einem Mann, der aus einem alten Stück Stoff einen Rock macht, aus dem Rock, als er zerschlissen ist, eine Weste, aus der Weste, als sie zerschlissen ist, ein Tuch, aus dem Tuch, als es zerschlissen ist, eine Kappe, aus der Kappe, als sie zerschlissen ist, einen Knopf, und aus dem Knopf ein Garnichts, aus dem Garnichts aber am Ende dies Liedchen, dann wären die Zöpfe fertig geflochten gewesen; die Großmutter hätte dem Mädchen Süßigkeiten aus dem Laden oder selbstgebackene Barches mitgebracht. Vier Jahre später wäre die kleine Schwester geboren worden, der Vater aber wäre da noch immer in der elften Gehaltsklasse gewesen, inzwischen hätte er an seinem Eisenbahnabschnitt jeden größeren Baum gekannt, von dem jemals ein Ast auf die Schienen gestürzt war, und die Mutter hätte, weil sie sich kein Dienstmädchen und keine Wäscherin leisten konnten, den Haushalt die ganze Zeit über selber geführt und die Wäsche selber gewaschen, in der eigenen Küche im Kochtopf, damit niemand sie dabei sah. Abends wäre sie oft, wenn sie noch lesen wollte, über dem Buch, das sie in der Hand hielt, in Schlaf gefallen. Die Großmutter, die gesehen hätte, wie ihre Tochter sich mühte, hätte ihr manchmal Geld zugesteckt, und zum siebenten Hochzeitstag im Jahre 1908 der jungen Familie eine Reise nach Wien geschenkt, zur Fronleichnamsprozession, auf der man, mit etwas Glück, den alten Kaiser sah, wie er als einfacher Sünder hinter dem Himmel herging. Die Mutter hätte gezögert, das Geschenk anzunehmen, schließlich aber hätte der Vater doch den Heimatschein für sich, seine Frau und die Töchter beantragt. Stolz wären sie gemeinsam zum ersten Mal über die Gleise gefahren, die der Vater betreute, an all den großen Bäumen vorüber, von denen in den Stürmen der letzten Jahre Äste heruntergestürzt waren, 1 Stunde und 20 Minuten dauerte dieser Abschnitt, die Reise insgesamt aber 17 Stunden.
    In Wien dann, inmitten der Menschenmenge, die den Weg von St. Stephan zur Hofburg säumte, hätte der Vater einen Studienkollegen getroffen, der inzwischen an der K . K .-Central-Anstalt für Meteorologie Wien angestellt war, die Männer hätten sich umarmt und zu erzählen begonnen, wie es ihnen inzwischen ergangen sei, der Vater hätte alles Mögliche gesagt, nur nicht das eine: Stell dir vor, meine Frau hat eine Handvoll Schnee genommen und der Großen so das Leben gerettet. Darüber hätte er geschwiegen, um das Schicksal nicht zu versuchen. Die beiden Männer hätten sich daran erinnert, wie schön ihre Studienzeit in Wien gewesen war, wie sie sich eine Zeitlang als Bettgeher das Bett eines Schichtarbeiters, der nachts nicht da war, geteilt hatten, der eine von ihnen hatte vier Stunden darin geschlafen, von abends um zehn bis nachts um zwei, der andere dann von zwei Uhr nachts bis früh um sechs, wenn einer von ihnen am Vormittag in der Vorlesung einschlief, schob der andere ihm ein paar Bücher unter den Kopf, damit er bequemer lag. Sie hätten sich auch daran erinnert, wie sie oft an den Winterwochenenden im Schnee durch den Wienerwald spaziert und dabei einmal der Verschiedenheit ihrer Spuren gewahr geworden waren: Im Gespräch hatten sie innegehalten und sich zufällig umgewandt, da war die Spur des Kollegen wie eine Schlangenlinie mit regelmäßiger Amplitude hinter diesem zu sehen gewesen, indes die Abdrücke des Vaters im Schnee schnurgerade verliefen. Damals hatten sie sich darüber erstaunt und sich gefragt, was das wohl bedeuten mochte, und auch heute wüssten sie keine Antwort. Beide würden sich gegenseitig bestätigen, wie außergewöhnlich es sei, dass sie noch immer so miteinander vertraut wären, obgleich sie sich schon über acht Jahre nicht mehr gesehen und sich auch keine Briefe geschrieben, ja, sich beinahe vergessen hatten, wenn sie ehrlich sein sollten. Eine Freundschaft im Einweckglas, hätte der Vater gesagt, und der Studienfreund hätte gelacht und nach dem Lachen gesagt, so gelacht habe er wirklich schon lange nicht mehr. Dann hätten sie über die Arbeit gesprochen, über den Neid der Kollegen, die Missgunst, über die Tücken der geheimen Qualifikation , und der Studienfreund hätte gesagt, das sei damals noch alles ganz anders gewesen, niemals habe er als Student geglaubt, dass man später so vorsichtig sein müsse mit dem, was man sage. Einen

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