Allerliebste Schwester
Erinnerungen.
»Ist alles in Ordnung?«, will Tobias wissen, bevor sie aussteigen.
»Ja«, erwidert sie, »alles gut.« Er mustert sie mit einem prüfenden Blick, und sie weiß, dass er an ihren Aufritt an Weihnachten denkt. So etwas wird ihr heute nicht wieder passieren.
»Ich habe auch keine große Lust auf diesen Geburtstag«, meint er, »aber wir sehen zu, dass wir es schnell hinter uns bringen.«
»Genau so sehe ich das auch.« Sie lächelt ihm zu, damit er sieht, dass es nicht nur leere Worte sind, dass sie mit ihm ganz einer Meinung ist. »Okay.« Sie steigen aus und begrüßen Evas Eltern, die bereits vor der Haustür stehen, um sie gebührend in Empfang zu nehmen.
»Da seid ihr ja endlich«, ruft ihre Mutter, »die Steaks werden schon kalt!«
»Immer herein in die gute Stube«, sagt Evas Vater, und sie folgen der Aufforderung.
Das Essen verläuft in geregelten Bahnen, Eva nimmt sogar am Gespräch teil. Tobias erzählt, dass sie beschlossen habe, wieder mit dem Klavierspielen und dem Singen anzufangen, Gerlinde quittiert es mit einem wohlwollenden: »Schön, dass du wieder Spaß an deinem Hobby hast.« Sie plaudern über die Golfstunden, die Tobias morgen nehmen wird. Evas Vater meint, er könne sich vorstellen, es auch mal zu probieren, man ist sich einig, dass er und Gerlinde irgendwann mit zum Platz fahren, wenn sie ein bisschen mehr Zeit haben,
denn bis zum Sommer sei ja noch so viel in Haus und Garten zu tun.
Eva ist überrascht, als die Uhr über dem Esstisch plötzlich dreimal schlägt, so schnell ist der Mittag dahin geflogen. Nur noch 24 Stunden, denkt sie, morgen um diese Zeit werde ich woanders sein.
»Worüber freust du dich?« Tobias beugt sich zu ihr, küsst sie neckend aufs Ohrläppchen. »Du grinst ja so in dich hinein!«
»Ich find’s einfach nur schön, hier mit euch zu sitzen«, sagt Eva. Ihr Mann strahlt. Wie leicht es ist, ihn zufriedenzustellen, auch Evas Mutter nickt erfreut und fragt, wer noch einen Kaffee will.
Nach dem Essen brechen Gerlinde, Manfred und Tobias auf, um sich die Beine zu vertreten. Eva entschuldigt sich, sie möchte in ihrem alten Zimmer ein kleines Nickerchen halten. Das verstehen alle, erst Weihnachten hat Halbgott in Weiß Rolf ja festgestellt, dass seine Schwiegertochter gut daran täte, sich öfter mal ein wenig Ruhe zu gönnen. Sie geht die Treppe hoch und hört, wie unten die Tür ins Schloss fällt.
Ihr Kinderzimmer - mit neun haben sie und Marlene jeweils ein eigenes bekommen, ihre Schwester zog ins frühere Gästezimmer um - sieht noch so aus, wie Eva es vor vielen Jahren verlassen hat. An den Wänden hängen alte Bravo -Poster, der Schrank neben ihrem Einzelbett ist über und über mit Stickern beklebt, auf dem kleinen Couchtisch neben dem hellblauen Sessel stehen bunte Leonardo-Gläser zu einer Pyramide aufgebaut,
über den Schreibtisch verstreut liegen ein paar Unterlagen, der Bürostuhl hat einen zerschlissenen Stoffbezug, im Regal stehen Romane und alte Schulbücher, die ihre Eltern aus unerfindlichen Gründen noch nicht weggeworfen haben. So, als würde man jederzeit auf die Heimkehr des Kindes warten. Nur ein Bügelbrett in der Ecke, auf dem sich Hemden türmen, weist darauf hin, dass Eva hier nicht mehr wohnt und ihre Mutter das Zimmer nutzt, um die Wäsche zu machen und dabei auf dem altersschwachen Fernseher im Regal ihre Lieblingsserien zu gucken.
Marlenes Zimmer nebenan sieht nicht mehr aus wie früher. Hier stehen nur noch ein Doppelbett, ein Schrank und ein Regal, ihre Eltern haben längst wieder ein Gästezimmer daraus gemacht, für die seltenen Besucher, die zu ihnen finden. Wie bei Eva und Tobias, nur dass dieses Zimmer über kein eigenes Bad verfügt.
Eva lässt sich auf ihr Bett sinken, schließt einen Moment lang die Augen, bevor sie den Stapel Bücher auf ihrem Nachttisch betrachtet. Sie greift nach einem zerfledderten Exemplar von Fernando Pessoas Buch der Unruhe . »Meine Bibel« hat Eva es früher genannt, diese Aufzeichnungen des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares, von denen sie oft dachte, sie könnten auch von ihr selbst stammen. Sie schlägt das Buch an einer beliebigen Stelle auf und liest laut den Eintrag vom 13. 6. 1930: Ich lebe immer in der Gegenwart. Die Zukunft kenne ich nicht. Die Vergangenheit gehört mir nicht mehr. Die eine lastet auf mir wie die Möglichkeit zu allem, die andere
wie die Wirklichkeit von nichts. Ich habe weder Hoffnungen noch Sehnsüchte. Da ich weiß, was mein Leben bis heute war - so
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