Allerliebste Schwester
über ihr Gesicht gleiten, »wenn du mich so küsst, will ich erst recht zu Hause bleiben.« Schon wandert er mit einer Hand unter ihr Schlafshirt, mit der anderen nestelt er an seinem Handtuch herum. Eva unterdrückt den Impuls, ihn ruckartig wegzustoßen, und schiebt ihn nur ganz langsam von sich weg.
»Du bist schon geduscht«, raunt sie kokett, »und ich hab nicht einmal Zähne geputzt.«
»Mir egal«, sagt er und versucht, sie wieder an sich zu ziehen. »Ich liebe dich auch, wenn du ungewaschen bist.«
»Heute Abend«, wehrt sie ihn ab, »haben wir alle Zeit der Welt. Aber jetzt solltest du los, Martin wartet bestimmt schon auf dich.«
Tobias zögert. Seit Evas Geburtstag hat er sie nicht mehr angefasst, und jetzt, da sie ihn einmal zärtlich berührt, scheint er diese Gelegenheit nur ungern verstreichen zu lassen. Doch dann steht er auf und nimmt sich die Sachen, die er bereits auf dem Korbsessel zusammen gelegt hat.
»Ja, ich muss wohl wirklich leider los«, erklärt er, während er Unterwäsche, Socken, Hemd und Anzughose anzieht. Noch einmal setzt er sich zu seiner Frau aufs Bett. »Ich werde dann mal fahren. Aber ich freue mich schon auf heute Abend. Allerdings wird es wohl nicht so früh werden, wir müssen wirklich …«
»Mach dir keine Gedanken, Schatz.« Sie muss sich nicht mal Mühe geben, ihn anzustrahlen, das Lächeln kommt von ganz allein und ehrlich aus ihrem Innersten. »Ich bin ja hier und warte auf dich.«
»Bis nachher!« Noch ein Kuss, dann steht er auf.
Nachdem Tobias das Schlafzimmer verlassen hat, lässt Eva sich zurück in die Kissen sinken. Einen Moment lang starrt sie unschlüssig an die Decke. Ob er jetzt wirklich in die Agentur fährt? Oder hat er sich das ausgedacht, um zu sehen, was sie in seiner Abwesenheit anstellt? Nein, sie verwirft diesen Verdacht, das glaubt sie nicht, dafür ist ihm der gemeinsame Sonntag zu heilig.
Wann er wohl wieder nach Hause kommen wird? Wie viel Zeit hat sie jetzt für sich? Bis um achtzehn Uhr? Zwanzig Uhr? Noch später? Früher, als alles noch
»normal« war, ist er oft erst morgens um drei oder vier aus der Agentur gekommen, vor wichtigen Präsentationen hat er manchmal sogar in der Firma übernachtet. Das wird er heute sicher nicht tun, aber vielleicht wird es bis in die Nacht dauern. Und was, falls er doch schon da ist, wenn sie zurückkommt, was soll sie ihm dann sagen? Doch fürs Erste schiebt sie diese Sorge beiseite. Das Einzige, was für dich zählen sollte, bist du selbst. So hat Marlene es gesagt, und daran wird sie sich ab sofort auch halten. Hoffnungen. Sehnsüchte.
Um zehn vor drei erreicht das Taxi den Sandtorkai in der Hafencity. Eva hat ihr Auto zu Hause gelassen. Für den Fall, dass Tobias schon früher aus der Agentur zurückkehrt, wird sie sagen, sie sei ein wenig spazieren und danach in der Sauna gewesen. Eine große Sporttasche mit Handtuch und Duschutensilien hat Eva in der Papiertonne vorm Haus versteckt, sie zwischen einen Stapel Zeitungen geschoben. Sie wird sie holen, bevor sie hinein geht. Ihr Handy liegt ausgeschaltet in der Küche, sie hat wohl aus Versehen vergessen, es mitzunehmen.
Eva wandert eine Weile umher, will erst um kurz nach drei bei Simon klingeln. Die Hafencity, für Architekten ein Traum der Stadtentwicklung, für lebende Menschen ein Alptraum aus Beton. Nirgends blüht etwas, die Magellan-Terrassen sind eine einzige riesige graue Fläche, ideal für Skateboard-Kids, die hier unter lautem Klackern, das von den Wänden der Gebäude widerhallt, ihre Kunststücke probieren. Sterile Cafés,
im neuen Museumshafen dümpeln träge ein paar Boote vor sich hin, überall Baukräne, Absperrungen und Flatterband. Vielleicht in ein paar Jahren, wenn der spröde Glanz der Neubauten verblasst ist, wenn sich hier und da etwas Unkraut durch den Asphalt gegraben hat, wird dieser Ort etwas Heimeliges bekommen. Doch jetzt pfeift der Wind eisig kalt durch die Häuserschluchten, Eva zieht ihren Mantel enger um sich und beobachtet ein paar Touristen, die von einem Guide durch das Areal geführt werden.
Ihre Hand zittert leicht, als sie ein paar Minuten später den Klingelknopf drückt. Sie betrachtet ihr Spiegelbild in der gläsernen Eingangstür, fährt sich noch einmal durch die Haare, die sie heute offen trägt. Passend zu ihren Augen hat sie sich die Ohrringe mit blauen Swarovski-Steinen angesteckt, sie hat Make-up aufgelegt, so sorgfältig wie schon lange nicht mehr.
Die Gegensprechanlage knackt. »Hallo?«,
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