Allerliebste Schwester
mich darum.«
»Ich hol dich um sechs vom Laden ab«, sagt Tobias.
»Prima, bis nachher!«
Kaum hat sie aufgelegt, ruft sie die Auskunft an, und lässt sich die Nummer des Golfclubs als SMS senden. Dann ein kurzes Gespräch mit dem Club, ja, Sonntag 15.00 Uhr wäre noch ein Trainer frei, zwei Probestunden werden reserviert.
»Simon?« Evas Stimme überschlägt sich fast, als sie zum zweiten Mal an diesem Tag mit ihm spricht.
»Das ging ja schnell«, stellt er fest. »Und? Wann hättest du Zeit?«
»Ich könnte am Sonntag, so um drei.«
»Das geht bei mir auch. Wo wollen wir uns treffen?«
»Wie wäre es, wenn ich zuerst zu dir komme, und dann schauen wir weiter? Will doch mal sehen, wie ein Architekt lebt.«
»Klar, können wir machen.« Er nennt ihr seine Adresse, verabschiedet sich mit einem »Dann bis Sonntag.«
Evas Hände zittern, als sie auflegt. Ein paarmal holt sie tief Luft, atmet langsam ein und aus, bevor sie zurück in den Laden geht. Als sie nach der Türklinke greift, steht Marlene plötzlich neben ihr.
»Du böse, böse, brave Ehefrau!« Sie grinsen sich an. Und dann geht Eva wieder hinein, um Bücher zu verkaufen.
»Wer hat denn angerufen?«, fragt Gabriele, nachdem die Kundin ihren Thriller bezahlt und das Geschäft verlassen hat.
»Tobias«, antwortet Eva. Schnell beugt sie sich über den Neuheitentisch und beginnt, die Bücher akkurat zusammenzurücken.
»Du hast so aufgeregt gewirkt«, lässt Gabriele nicht locker.
»Wirklich? Das kommt dir nur so vor.«
»Hm.«
»Wir haben darüber gesprochen, dass wir Sonntag endlich mal zum Golfplatz rausfahren wollen, damit Tobias sein Weihnachtsgeschenk einlösen kann. Ich
hab ihm ja einen Schläger und ein paar Probestunden geschenkt.«
»Ach so.«
Ja. Ach so. Und jetzt halt die Klappe und lass mich endlich in Ruhe!
11
Sie kehrt nicht mehr oft an den Ort zurück, wo sie aufgewachsen ist. Neu-Wulmstorf, diese kleine Gemeinde südlich der Elbe, von einer Bundes- und einer Landstraße in vier Stücke zerhauen. Niedersachsen, Landkreis Harburg, Kennzeichen WL, zwanzigtausend Einwohner. Ein Gymnasium, eine Haupt- und eine Realschule, ein paar Supermärkte, Geschäfte und Kneipen mit Erlebnisgastronomie. Sonnenstudio, Nagelstudio, Fitnessstudio.
»Auf der einen Seite das Tor zur Welt - auf der anderen unser Garten, das Alte Land«, preist Gerlinde, ihre Mutter, die Vorzüge von Neu-Wulmstorf. Für Eva ist es der Vorhof zur Hölle. Achtzehn Jahre hat sie es in dem Ort ausgehalten. Und ist froh um jede Sekunde, die sie nicht mehr dort sein muss.
Aber heute ist Mutters fünfundfünfzigster Geburtstag, ein Pflichttermin. Früher ließ Eva sich selbst zu solchen Anlässen nicht in ihrer alten Heimat blicken. Meistens rief sie nicht einmal an, um zu gratulieren. Hin und wieder erzählte Marlene nach ihren Besuchen, welche Neuigkeiten es bei »den Alten« gab, aber
zum einen war da nie viel Neues, zum anderen schaltete Eva die Ohren meist sofort auf Durchzug, sobald ihre Schwester davon berichtete. Warum hätte sie auch zuhören sollen? Sie interessierte sich nicht für ihre Eltern, und ihre Eltern interessierten sich nicht für sie.
»Ich habe schon in deiner Pubertät aufgegeben, aus dir einen vernünftigen Menschen zu machen«, hat Evas Mutter vor vielen Jahren einmal im Streit zu ihr gesagt. Eine Kapitulation, die Eva nur recht war. Die ständigen Vorwürfe wegen ihrer zahllosen Unzulänglichkeiten, die physischen und psychischen Misshandlungen, die Eva während ihrer Jugend einstecken musste, weil sie es im Unterschied zu Marlene nicht verstand, den Mund zu halten, sich ihren Teil zu denken - das alles sind nur noch Fetzen in ihrer Erinnerung. So zerfetzt, dass Eva sich manchmal fragt, ob das alles jemals passiert ist. Stammt die Narbe über ihrer linken Augenbraue wirklich von einem Kleiderbügel? Hat Evas Mutter ihr tatsächlich bei ihrem ersten großen Liebeskummer gesagt, sie solle sich gefälligst zusammenreißen, und es sei ja auch kein Wunder, wenn ein Junge ein Flittchen wie sie nicht haben wolle? Trügt die Erinnerung an all die Nächte, in denen Marlene sie, die »kleine« Schwester, getröstet hat, weil der Kummer darüber, nicht funktionieren zu können und es doch so verzweifelt zu wollen, unerträglich war?
Jetzt, während Tobias den Wagen auf die gepflegte Kieseinfahrt vor dem Haus lenkt und ihre Eltern schon winkend in der Tür stehen, kommt ihr das alles mehr
als unwirklich vor. Und es sind ja auch nur noch lästige
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