Allerliebste Schwester
viele Male und in so vielem das Gegenteil dessen, was ich mir gewünscht hatte -, was kann ich da mutmaßen über mein morgiges Leben? Einzig dass es sein wird, was ich nicht vermute, was ich nicht will und was mir von außen zustößt, bisweilen selbst durch mein eigenes Zutun. Da ist nichts in meiner Vergangenheit, an das ich mich erinnerte und mir vergeblich wünschte, es gäbe dafür eine Wiederholung.
»Das war schon immer dein Problem.« Marlene sitzt mit verschränkten Armen in dem blauen Sessel.
»Was?«, fragt Eva. Ihre Schwester steht auf, kommt zum Bett herüber und lässt sich am Fußende nieder.
»Dass du solche Sachen liest.« Sie deutet auf das Buch. »Das ist doch ganz furchtbar.«
»Manche Dinge im Leben sind eben furchtbar«, stellt Eva fest.
»Aber sie werden nicht besser, indem man sich auch noch in ihnen wälzt. Weder Hoffnungen noch Sehnsüchte «, zitiert Marlene mit bewusst theatralischer Stimme. » Nichts in meiner Vergangenheit, an das ich mich erinnerte und mir vergeblich wünschte, es gäbe dafür eine Wiederholung. « Sie verdreht die Augen. »Mal ehrlich, Eva, das ist grässlich pubertär!«
»Ich war pubertär, als ich es gelesen habe.« Eva lacht. Immer hat sie Marlenes pragmatische Art, die Dinge zu betrachten, gemocht. Sie sogar dafür bewundert.
»Und jetzt?«
»Jetzt bin ich nicht mehr pubertär«, stellt Eva fest.
»Das meine ich doch nicht.«
»Sondern?«
»Was ist heute mit deinen Hoffnungen und Sehnsüchten? Welche Momente wünschst du dir zurück?«
Mit einem Mal fühlt Eva ein Stechen in der Brust, sie setzt sich auf, räuspert sich mehrmals, ehe sie ihrer Schwester antwortet.
»Das weißt du doch«, flüstert sie. »Den elften Mai, als du gestorben bist.«
»Ausgerechnet diesen Tag wünschst du dir zurück?« Marlene mustert sie ungläubig, kopfschüttelnd.
»Ich wünsche ihn mir anders zurück. Ich wünsche ihn mir so, dass ich ans Telefon gehe, wenn du mich anrufst, und ich dir helfen kann.«
Schweigend rutscht Marlene neben Eva. »Glaub mit, das hätte rein gar nichts geändert.«
»Doch, das hätte es. Wenn ich diesen Tag noch einmal zurückholen könnte. Und auch die vielen, vielen Tage davor! Wenn ich … wenn ich das, was ich getan habe, ungeschehen machen könnte, oder wenn ich an deiner Stelle gesprungen wäre, wenn ich -«
»Schhhhh«, beruhigt Marlene sie. »Die Dinge sind, wie sie sind, und lassen sich nicht ändern. Also red keinen Unsinn.«
»Aber wenn du wüsstest«, fährt Eva fort. »Wenn du …«
»Ich will gar nichts wissen«, wird sie von Marlene unterbrochen, »es spielt nämlich überhaupt keine Rolle mehr.«
»Für mich schon.«
»Aber das sollte es nicht. Das Einzige, was für dich zählen sollte, bist du selbst.«
»Wer bin ich denn schon? Ich weiß es doch schon gar nicht mehr.« Sie sieht auf und blickt Marlene direkt in die Augen.
»Du bist Barbro«, erinnert Marlene Eva in neckendem Tonfall. »Meistens ein bisschen verrückt, oft viel zu traurig, aber immer meine Barbro. Ylva-Lis Barbro.«
»Nein, das stimmt nicht. Das war ich schon lange nicht mehr. Und ich frage mich, wann wir aufgehört haben, das füreinander zu sein. Und warum?« Sie spürt, wie Marlene sich versteift, nur für den Bruchteil einer Sekunde, aber Eva entgeht es nicht.
»Lass uns aufhören, in der Vergangenheit zu wühlen.« Marlene deutet noch einmal auf das Buch. »Was steht da? Die Vergangenheit gehört mir nicht mehr.« Sie klingt so bestimmt, dass Eva intuitiv nickt.
»Ja«, sagt sie. »Sie gehört uns nicht mehr.«
»Und deshalb sollten wir lieber von der Zukunft reden. Also, was sind deine Hoffnungen, deine Sehnsüchte?«
Eva überlegt einen Moment, was aber eigentlich gar nicht nötig wäre. Gerade in diesem Augenblick könnte sie die Frage wie aus der Pistole geschossen beantworten.
»Meine Hoffnungen«, setzt sie an. »Weißt du, was ich wirklich hoffe …«
»Eva?« Sie zuckt zusammen, als die Tür sich öffnet und Tobias eine Sekunde später in ihr Zimmer tritt.
Schnell greift sie nach dem Buch, das aufgeschlagen vor ihr liegt. »Mit wem sprichst du denn?«
»Mit niemandem«, erklärt sie, »ich habe nur laut aus meinem früheren Lieblingsbuch gelesen.«
»Ich dachte, du wolltest schlafen?«
»Ja, aber dann habe ich lieber gelesen.« Sie bemüht sich, den Unmut in ihrer Stimme zu unterdrücken, weil er sie und Marlene gestört hat und weil er schon wieder alles hinterfragt, alles, was sie tut und denkt. »Das wird ja doch wohl
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