Allerliebste Schwester
eingeschlossen. So fühlte Eva sich damals, abgekapselt, abgeschnitten, jede einzelne lebenswichtige Ader durchtrennt. Und doch dazu verdammt, nicht fortgehen zu können. Die Schwangerschaft mit Lukas verscheuchte dieses Gefühl für kurze Zeit, damit es Eva, nach der Totgeburt, mit umso größerer Wucht erneut treffen konnte.
Jetzt aber will sie nicht schlafen. Sie staunt, dass eine kurze Begegnung mit einem Fremden ihre Stimmung so aufhellen kann. Das will Eva nicht hinterfragen. Woher die Linderung kommt, ist letztlich egal. Der Junkie fragt auch nicht nach der Herkunft des Stoffs.
Wann er sich wohl wieder bei ihr melden wird? Oder soll sie ihn anrufen und um ein weiteres Treffen bitten? Wie lange muss sie warten, bis sie selbst zum Hörer greifen kann? Muss sie überhaupt warten, ist es wichtig, irgendwelche vermeintlichen Regeln einzuhalten? Hat
sie nicht lange genug ihr Leben einfach nur noch passieren lassen, ist es nicht an der Zeit, sich aus der Bewegungsstarre zu lösen?
Sie dreht sich zur Seite, zieht sich die Bettdecke über den Kopf und schließt die Augen. Sicher können wir das , hat Simon gesagt. Und dann die Stimme Marlenes: Ich bin tot. Ich kann alles.
»Sag mal«, fragt Gabriele, als Eva am Montagmorgen den Laden betritt. »Gibt es da eigentlich irgendwelche Probleme zwischen dir und Tobias?« Eva hängt ihre Jacke an den Haken hinter der Kasse und schnappt sich den Rollwagen, auf dem die Kartons mit der neuen Bücherlieferung stehen, die einsortiert werden muss. Bevor sie ins Geschäft kam, war sie noch kurz mit ihrem Ring bei einem Juwelier, weil er tatsächlich etwas locker saß. Sie hätte ihn wirklich verlieren können, dieses teure Stück aus gehämmertem Gold mit drei Brillanten. Aber das kann nun nicht mehr passieren. Heute Nachmittag soll sie ihn abholen, danach wird er wieder fest und unverrückbar an ihrem Finger sitzen.
»Nein«, erklärt Eva auf Gabrieles Frage. »Gibt es nicht.«
»Aha.« Ihre Chefin wendet sich wieder dem Computer zu und tippt irgendetwas ein. Nach einer Weile hebt sie den Kopf, hakt noch einmal nach, Evas Antwort scheint ihr nicht zu reichen.
»Ich meine ja nur«, ruft sie zu Eva herüber, die auf der Leiter steht und die neuen Bücher ins Regal schiebt. »Es ist schon etwas komisch, dass Tobias dich
fast jeden Tag hierherbringt und wieder abholt. Und als er dich am Samstag gesucht hat, da wirkte er total … aufgebracht.«
»Alles ist in Ordnung«, sagt Eva. Was man eben so unter ›in Ordnung‹ versteht.
»Und was ist …« Sie zögert, scheint unsicher, ob sie danach fragen soll. Tut es dann aber. »Mit diesem geheimen Verehrer, der dir das Astrid-Lindgren-Buch geschenkt hat?«
»Gar nichts«, antwortet Eva heftiger, als sie will. Sie räuspert sich. »Das Buch hatte ich einem alten Bekannten geliehen und er hat es mir zurückgebracht.«
»In Geschenkpapier verpackt?«
»Sollte wohl ein Witz sein, weil er wusste, dass ich gerade Geburtstag hatte.« Eva denkt, dass sie es jetzt gut sein lassen wird, doch ihre Chefin bohrt hartnäckig weiter.
»Du kannst es mir aber wirklich ruhig sagen, wenn da doch was ist. Ich bin deine Freundin, das weißt du, oder?« Eva steigt von der Leiter, geht langsam rüber zu Gabriele, bleibt vor ihr stehen und blickt sie einen Moment lang wortlos an.
»Warst du auch Marlenes Freundin?« Gabriele macht ein überraschtes, aber auch ein wenig beleidigtes Gesicht.
»Aber natürlich war ich das.«
»Und glaubst du, dass sie wirklich glücklich war?«
Gabriele legt die Stirn in Falten, zögert, als wisse sie nicht genau, was sie auf diese Frage antworten soll. »Ich denke schon.«
»Und was hat sie dann dazu gebracht, vor die U-Bahn zu springen?« Eine berechtigte, eine logische Frage, findet Eva. Glückliche Menschen wollen leben und nicht vorzeitig sterben.
Ihre Chefin seufzt. »Das habe ich mich auch schon tausendmal gefragt. Glaub mir, lange Zeit konnte ich über nichts anderes nachdenken als darüber, warum deine Schwester sich das Leben genommen hat. Aber Marlene war … sie hat eben nie viel über sich geredet.«
»Und deshalb denkst du, dass sie glücklich war?« Gabriele schweigt, darauf hat sie offenbar keine Antwort.
»Lass uns weitermachen«, meint Eva nach einer Weile und steigt zurück auf die Leiter.
»Du stellst wirklich bescheuerte Fragen.« Im ersten Moment denkt Eva, es sei Gabriele, die mit ihr spricht. Aber dann entdeckt sie Marlene, die im Schneidersitz auf dem Boden neben der Leiter hockt
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