Allerliebste Schwester
er sie plötzlich auf, und sie hört ein Lächeln in seiner Stimme. Wieder blickt Eva auf.
»Was soll ich da erzählen?«
»Na ja«, erklärt Simon. »Bisher weiß ich nur, dass du in Gabys Bücherstube arbeitest. Und dass du nicht verheiratet bist.« Unwillkürlich zieht sich Evas Magen zusammen, ein leichtes Zittern geht durch ihren Körper. »He«, ihm entgeht es nicht, »was ist los, habe ich etwas Falsches gesagt?«
»Nein«, versichert sie eilig, »es ist nur … eine etwas eigenartige Situation.«
»Das stimmt«, gibt er ihr recht. »Aber genau deshalb will ich ja mehr über dich wissen. Wenn Marlene über dich gesprochen hat, betonte sie immer nur, wie unterschiedlich ihr wärt.« Er schiebt sie von sich fort, setzt sich im Bett ein Stückchen auf und betrachtet sie nachdenklich. »Wer also ist die Frau, zu der ich mich so hingezogen fühle?«
»Hingezogen?«, fragt Eva, statt zu antworten.
»Vom ersten Moment an«, bestätigt Simon, »als ich dich im Laden sah.«
»Halb zog sie ihn, halb sank er hin«, rezitiert Eva aus Goethes Fischer . Dann lachen beide, umarmen sich erneut und lassen sich ein weiteres Mal hinsinken.
13
Es ist kurz vor acht, als Eva sich von einem Taxi in der Isestraße absetzen lässt. Die letzten Schritte will sie zu Fuß gehen für den Fall, dass Tobias bereits zu Hause ist. Mit jedem Meter, den sie sich der Stadtvilla nähert, wird sie nervöser. So lange hat sie nicht fortbleiben wollen. Und gleichzeitig auch viel länger.
»Reicht man dir den kleinen Finger, nimmst du gleich die ganze Hand.« Evas Mutter. Da war sie dreizehn oder vierzehn Jahre alt, kam nach einer Jugendfete nicht wie abgesprochen um zehn, sondern erst um halb elf nach Hause. »Überspann den Bogen nicht, mein Fräulein.« Ihr Vater, ganz aufseiten ihrer Mutter. Keine Gnade, auch nicht bei dreißig Minuten, Prügel, eine Woche Hausarrest, Evas Keyboard verschwand wie so oft in der abgesperrten Abstellkammer unter der Treppe. Gern hätte sie den Bogen jetzt auch überspannt, so weit, dass er brechen musste, ganz oder gar nicht, nicht wahr? Aber obwohl Simon sie gebeten hat, über Nacht zu bleiben, ist sie aufgebrochen, um brav nach Hause zurückzukehren. Wollte den Bogen nicht überspannen, noch nicht, vielleicht
nie, zu viele Gedanken in ihrem Kopf, zu unwirklich das, was in Simons Loft passiert ist. Viel zu lange her, dass sie, Eva, Eva war.
Jetzt biegt sie in die Brahmsallee ein. Jeder Meter fällt ihr mit einem Mal schwer, die Leichtigkeit, die sie am Nachmittag noch spürte, ist einer drückenden Schwere gewichen. Immer langsamer bewegen sich ihre Füße. Ein Trauermarsch, Marche funèbre , Frédéric Chopin, Klaviersonate Nummer 2 in b-moll, Opus 35, 3. Satz. Vor ein paar Monaten, als sie Lukas zu Grabe getragen haben, hatte sie diese Melodie ständig im Ohr. Obwohl sie bei der Trauerfeier nicht einmal gespielt wurde, sie brachten ihren Sohn so still unter die Erde, wie Eva ihn geboren hatte. Und nun ist diese Melodie plötzlich wieder da, schwirrt durch ihren Kopf, während sie zurück nach Hause stapft, in ihr Leben, das so gar nichts hat von einem Loft, in dem man frei atmen kann.
Trotzig strafft sie die Schultern, als wäre es ein stolzer Gang zum Schafott. Und wenn schon, denkt sie, sollte Tobias schon da sein, wird sie ihm sagen, dass sie das Recht hat, jederzeit tun und lassen zu können, was sie will, und dass er verdammt noch mal aufhören soll, sie wie seine Gefangene zu behandeln. Sie ist zu alt für Prügel und Hausarrest, das ist sie, und der Steinway-Flügel, ha, der passt ohnehin in keine Kammer!
Ja, das hätte sie ihm längst einmal sagen sollen, statt sich vor ihm zu ducken. Sie hat sich auf eine Weise schikanieren lassen, wie sie es vor ein paar Jahren im
Traum nicht für möglich gehalten hätte. Was hat sie schon verbrochen, damals, in dieser Nacht nach der Premiere? War er denn nicht daran genauso sehr beteiligt wie sie? Warum soll nur einer der Komplizen die Zeche zahlen? Eva hat ihre Schwester betrogen, er seine Frau, quid pro quo, ja, genau das wird sie ihm sagen, wenn er sie bereits erwartet und eine Rechtfertigung verlangt.
Dieses Mal wird sie sich wehren, dazu ist sie fest entschlossen. Und dennoch steigt Erleichterung in ihr auf, als das Haus in Sichtweite kommt und kein BMW zu sehen ist: Nur ihr Mini steht vor der Tür, also arbeitet Tobias noch in der Agentur. Eilig läuft sie zum Haus, öffnet die blaue Tonne, kramt die Sporttasche unter dem Papier hervor und hängt
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