Allerliebste Schwester
presst. Es fällt ihr nicht schwer, zu präsent ist die Erinnerung an den Nachmittag, sogar seinen Geruch kann sie sich zurück ins Gedächtnis rufen, der ihr jetzt im Vergleich zu dem ihres Mannes noch so viel süßer, so viel anziehender erscheint. Sie denkt an Simons blassblaue Augen, die er - anders als Tobias - nicht schloss, während er mit ihr schlief. Als würde er sich jederzeit davon überzeugen wollen, dass es Eva gut ging, dass sie einverstanden war mit dem, was er tat. Und das war sie, sie genoss seine Hände auf ihrem Körper, diese feingliederigen Architektenhände, die - so fühlte es sich tatsächlich an - für den Moment die Risse in ihrem Innern
kitten konnten. Auch jetzt noch, neben Tobias liegend, fühlt sie sich, als wäre ihr Körper von einem unsichtbaren Schutzschild überzogen. Nichts geht mehr rein, nichts kommt mehr raus. Doch, denkt sie dann und atmet mit einem tiefen Seufzer aus, lässt los, lässt alles los, was sie so lange gefangen hielt.
Kaum hört sie Tobias leise schnarchen, löst Eva sich vorsichtig aus seiner Umarmung und steht auf. Sie schleicht aus der Tür, holt aus dem Bad ihren Morgenmantel, streift ihn über und geht wieder hinunter ins Wohnzimmer.
»Ich habe auf dich gewartet.« Marlene sitzt auf dem Sofa, wippt ungeduldig mit einem Fuß, ihr Gesichtsausdruck undurchdringlich. Freundlich? Angespannt? Eva kann es nicht sagen.
»Das dachte ich mir.« Sie nimmt in dem Sessel gegenüber ihrer Schwester Platz.
»Erzähl’s mir«, fordert Marlene sie auf.
»Muss ich doch wohl nicht. Du sagtest ja, dass du immer bei mir bist.«
»Stimmt.« Marlene lacht, also Freundlichkeit. »Aber ich dachte, du würdest vielleicht gern darüber reden.« Eva schüttelt den Kopf.
»Nein, möchte ich nicht.«
»Dann erzähl mir etwas anderes«, meint Marlene.
»Was denn?«
»Erzähl mir, wann wir uns verloren haben.«
»Neulich wolltest du nicht darüber sprechen«, erinnert Eva ihre Schwester an das Gespräch, das sie in ihrem alten Kinderzimmer geführt haben.
»Das war neulich«, antwortet Marlene lapidar. »Aber jetzt will ich wissen, wann du angefangen hast, mich zu hassen.«
»Hassen?«
»Du weißt, was ich meine.«
14
»Nach der Schule gehen wir zusammen nach Hamburg, gründen eine WG und studieren.« Wie oft hat Marlene das gesagt. Jedes Mal, wenn Eva über das »Kaff« fluchte, in dem sie und ihre Schwester gefangen waren, malte Marlene ihrer beider Zukunft in den schillerndsten Farben aus.
» Wir ist gut«, stellte Eva daraufhin immer wieder fest, »ich muss ja noch fast ein Jahr länger hierbleiben als du. Und wenn du nicht mehr da bist, drehe ich endgültig durch.« Mehr als einmal wollte Eva schon abhauen. Das Gymnasium schmeißen und sich irgendwo in der Stadt einen Job suchen. Zur Not als Putzfrau oder Babysitterin, irgendwas, um sich über Wasser zu halten, bis jemand sie als Sängerin entdecken würde.
Sie kommt nicht klar, kommt einfach nicht klar mit dieser beengten Welt, in der Marlene immer die Vorzeigetochter und sie das enfant terrible ist. Das schreckliche, das schwierige Kind. Keiner versteht, weshalb sie so anders ist. Am wenigsten Evas und Marlenes Mutter, sie hat doch beide genau gleich erzogen. Sogar ihren Beruf als Buchhalterin hat sie nach der Geburt
aufgeben, alle Aufmerksamkeit auf ihre zwei Töchter gerichtet. Nun zieht sie nicht mehr bei ihrem Arbeitgeber, sondern in der Familie Bilanz. Marlene im Haben, Eva im Soll. Während Marlene Nachhilfe gibt, muss Eva welche bekommen. Marlene hat nicht mal zu Silvester einen Schwips, bei Eva der erste Vollrausch mit fünfzehn. Bis zum Abitur hat Marlene nur einen einzigen Freund, Eva hält über solche Dinge lieber gleich den Mund. Trotzdem wird in dem Ort über sie gemunkelt und getratscht. Was ihrer Mutter so gar nicht passt.
»Was machen wir nur mit dir?« Die Frage aller Fragen, was soll man mit Eva schon machen? Wenn der erste Platz bereits besetzt ist, muss man sich einen anderen suchen. Oder zusehen, dass man wegkommt.
Eine gepackte Tasche mit den nötigsten Sachen hortet Eva ganz weit hinten in ihrem Kleiderschrank. Aber sie hat sie nicht ein einziges Mal hervor geholt. Wegen Marlene. Weil Marlene sie immer wieder bittet, durchzuhalten, ihr erklärt, dass das Abitur nun mal wichtig sei und dass sie die restliche Zeit auch noch durchstehen würde.
Den Tag, an dem ihre Schwester auszieht, um in Hamburg ihr Medizinstudium zu beginnen, wird Eva nie vergessen. Während ihr Vater Manfred Marlenes
Weitere Kostenlose Bücher