Allerliebste Schwester
den Spiegel, der sie und Simon zeigt, wie sie hintereinander stehen, sich einige Sekunden lang gegenseitig in der Reflexion betrachten. Dann hebt Simon eine Hand, streicht langsam über Evas Gesicht, wie in Zeitlupe erkundet er jeden Millimeter davon, wandert hinunter zu ihrem Hals, fährt durch ihr offenes Haar. Eva schließt die Augen, genießt die Berührung. Doch dann zieht er seine Hand abrupt zurück, überrascht dreht Eva sich zu ihm um.
»Tut mir leid«, sagt Simon, »ich weiß auch nicht, was …« Er rückt zwei Schritte von ihr ab.
»Was weißt du nicht?«
»Ich …«, er sucht nach den richtigen Worten. »Dein Anblick irritiert mich, du siehst Marlene einfach so ähnlich.«
»Aber ich heiße Eva.«
»Eben«, erwidert er mit einer Heftigkeit in der Stimme, die sie unwillkürlich noch einen Schritt zurückweichen lässt. »Und deshalb … ich weiß nicht, was ich denken soll, ich …«
»Du warst in meine Schwester verliebt«, stellt Eva fest. Er muss darauf keine Antwort geben, sie weiß auch so, dass es stimmt. Weiß doch längst, dass er deshalb zurückgekehrt ist, dass er nur aus diesem Grund wieder im Buchladen aufgetaucht ist. Aus einem Anflug von Nostalgie heraus.
»Und Marlene?«, will Eva wissen. »War sie auch in dich verliebt?«
Simon zögert einen Moment. »Vielleicht, ich weiß es nicht. Kann sein. Oder, nein«, sagt er, »wahrscheinlich nicht. Sie war ja verheiratet, das hat sie mir von Anfang an gesagt, es machte also gar keinen Sinn, darüber nachzudenken, das hätte nie …« Mit zwei Schritten steht Eva wieder direkt vor Simon, schlingt die Arme um seinen Nacken.
Ein kurzer Widerstand auf seiner Seite, dann zieht er sie an sich, küsst sie mit weichen Lippen, wie kleine Stromschläge fahren seine Berührungen durch ihren Körper. Sie schnuppert an seiner warmen Haut, saugt seinen Geruch in sich auf, als würde sie ihn für immer inhalieren wollen. Es erinnert sie an das Gefühl nach ihrem ersten großen Konzert, als die Aufregung und
das Leben durch sie hindurchströmten. Fast muss sie weinen, so lange ist es her, dass sie so etwas gespürt hat. Für einen kurzen Moment schießt ihr der Gedanke durch den Kopf, dass Simons Zärtlichkeiten vielleicht gar nicht sie, sondern Marlene meinen. Aber dann ist es ihr egal.
Irgendwann knien sie voreinander auf Simons Bett, lassen vorsichtig ihre Hände über den Körper des anderen wandern. Simon legt seine Brille ab, zieht sich den Pullover über den Kopf und knöpft sein Hemd auf, mehr von seinem Duft breitet sich aus, Eva fühlt sich umhüllt wie von einem warmen Kokon. Auch sie öffnet ihre Bluse und ihren BH, dann zieht sie ihn zu sich heran, so fest, dass sie miteinander verschmelzen, ein irritierend vertrautes Gefühl. Küssend legen sie sich auf die Seite, betten sich auf die zwei weißen Kopfkissen, während sie nicht aufhören, sich gegenseitig zu erkunden. Mit ihrem Zeigefinger zeichnet Eva die feinen Fältchen um Simons Augen nach, während er eine Hand langsam über ihren Bauch nach unten wandern lässt. Als er den Bund ihrer Hose erreicht und fast schüchtern den Verschluss öffnet, hält er noch einmal inne und sieht sie nachdenklich an.
»Du kennst mich kaum«, stellt er leise fest. Die letzte Möglichkeit für sie, aufzustehen, sich anzuziehen und zu gehen. Der letzte Moment, in dem sie vernünftig sein kann, bevor sie einen Fehler begeht und einen Schritt unternimmt, der nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. »Ich bin ein Fremder für dich«, spricht Simon weiter, »und trotzdem liegst du hier mit mir.« Fast
muss sie lachen, als er das sagt. Ein Fremder, ja, und er kann nicht wissen, dass sie früher schon mit Männern geschlafen hat, von denen sie weniger wusste als ihren Namen, ihren Beruf und ihre Adresse.
»Wenn du mich ansiehst«, erklärt sie stattdessen, »bist du mir nicht fremd.« Jetzt lächelt er.
»Ich weiß, was du meinst.«
Zwei Stunden später liegt Eva noch immer in Simons Armen, ihren Kopf auf seine nackte Brust gebettet, die sich kaum merklich hebt und senkt. Zärtlich streichelt er über ihren Rücken, während Eva durch die großen Fensterscheiben gedankenverloren den Hafen betrachtet. Simon seufzt.
»Tut es dir leid?«, will Eva wissen, hebt den Kopf und betrachtet ihn.
»Nein«, sagt er und küsst sie. »Es tut mir nicht leid. Dafür war es zu schön.« Sie lässt ihren Kopf zurück auf seine Brust sinken, schmiegt sich wieder ganz nah an ihn heran.
»Erzähl mir von dir«, fordert
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