Allerliebste Schwester
Habseligkeiten in den VW-Passat packt, um seine Tochter ins Studentenwohnheim zu fahren - die WG würde ja noch ein Jahr warten müssen -, schließt Eva sich in ihrem Zimmer ein. Hackt verbissen auf ihrem Keyboard herum, brüllt wütende Songzeilen und weigert
sich, auf Marlenes hartnäckiges Klopfen gegen ihre Tür zu reagieren. Geh doch, geh doch, lass mich hier zurück, wen kümmert es, wenn ich verrecke?
Erst am Abend hat sie sich so weit beruhigt, dass sie den Anruf ihrer Schwester entgegennehmen kann.
»Barbro, bitte, es tut mir so leid«, kommt Marlenes Stimme traurig durchs Telefon.
»Wenn es dir leid tun würde, wärst du jetzt noch hier.«
»Was soll ich denn machen? Soll ich ein Jahr verschwenden, um auf dich zu warten?« Schweigen. »Barbro?«
»Nenn mich nicht so, das ist kindisch und albern.«
»Ist es gar nicht. Du bist kindisch und albern!«
»Von mir aus.« Trotzige Tränen steigen Eva in die Augen.
»Barbro, bitte!« Ein Seufzen. Eine lange Pause. Keine von ihnen sagt ein Wort. Dann Marlene: »Okay. Wenn es so schlimm ist, komme ich eben zurück.«
»Quatsch!«
»Doch, wirklich, das meine ich ernst. Vielleicht leiste ich ein freiwilliges soziales Jahr ab oder so, das macht sich auch später im Lebenslauf gut.« Die Versuchung breitet sich in Eva aus, die Versuchung, jetzt einfach »Ja, bitte tu das!« zu sagen.
Sie sagt es nicht.
»Nein, ist in Ordnung, du freust dich doch schon ewig auf dein Studium.«
»Bist du sicher?«
»Ja.« Nein!
»Ich komme auch ganz oft nach Hause, versprochen.«
»Ist gut.«
»Versprichst du mir auch was?«
»Was denn?«
»Bau bloß keinen Scheiß. Es ist ja nur noch ein Dreivierteljahr bis zum Abi, das hältst du bestimmt durch. Und dann ziehen wir zusammen in die WG. Du gehst zur Musikhochschule, und wir führen ein wildes Studentenleben.«
»Ja«, jetzt laufen die Tränen ungebremst, »genauso machen wir es. Das wird toll!«
Keine vier Monate nach diesem Gespräch ist plötzlich alles anders. Marlene hat sich verliebt. In Tobias, den smarten BWL-Studenten aus gutem Hause, Vater Chefarzt an der Uniklinik, Mutter ganz im Dienste der Society unterwegs. Zwischen zwei Vorlesungen ist er ihr auf dem Gelände des Klinikums über den Weg gelaufen, als er gerade seinen Vater besuchen wollte - Liebe auf den ersten Blick, nennt Marlene es. Sie zieht zu ihm in seine kleine Eigentumswohnung, die seine Eltern ihm am Grindelhof gekauft haben. Aus der Traum von der wilden Studenten-WG! Aus. Versprochen .
Danach, nach dem Wochenende, an dem Marlene mit Tobias nach Neu-Wulmstorf kommt, ihn den Eltern vorstellt und erzählt, dass sie zu ihm ziehen wird, haut Eva nach Hamburg ab. Beim gemeinsamen Abendessen entschuldigt sie sich, dass sie kurz einmal für »kleine Mädchen« müsse - in Wahrheit läuft sie in ihr Zimmer, greift die versteckte Tasche, raus auf die B 73, die direkt vor ihrer Tür liegt, und streckt den Daumen
raus. Ein Fernfahrer nimmt sie mit, setzt sie in Altona ab.
Drei Stunden irrt sie durch die Stadt. Wohin? Das wenige Ersparte soll nicht für ein Hotel draufgehen, sie wird haushalten müssen, bis sie eine Arbeit findet.
Morgens um zwei die Lösung des Problems: ein Mann um die dreißig, betrunken und einsam am Tresen einer Kiezkneipe. Gut genug für die Nacht, gut genug für die nächsten vier Wochen, bis Eva einen Job als Kellnerin und eine eigene Bleibe findet, eine kleine Einzimmerwohnung in der Neustadt. Nichts Großartiges zwar, aber billig und gut genug für sie. Mit einem Vermieter, der keine Fragen stellt, dem es reicht, dass sie die erste Miete in bar bezahlt.
Der erste Anruf bei ihren Eltern. Die trotzig-kleinlaute Bitte, ihr ihre restlichen Sachen vorbeizubringen, ihre Bücher, das Keyboard. Eine Stunde später stehen sie vor der Tür. Nicht ein einziges der Dinge, um die Eva gebeten hat, dabei. Aber Marlene. Marlene ist mitgekommen, papierblass mit dunklen Augenringen.
»Eva!« Die Schwester fällt ihr weinend um den Hals. »Wo warst du denn? Wieso bist du so einfach abgehauen?«
Sanft schiebt Eva ihre Schwester von sich weg. »Keine Sorge«, sagt sie. »Es ist alles gut.«
»Gut?«, bellt ihre Mutter. »Was soll denn da gut sein? Bist du jetzt völlig verrückt geworden?«
»Wo sind meine Sachen?«, fragt Eva ruhig.
»Zu Hause«, erklärt ihr Vater, »da, wo du jetzt auch wieder mit hinfährst.« Er greift nach ihrem Arm, so
fest, dass sie denkt, sie wird mit Sicherheit einen blauen Fleck kriegen.
»Nein!« Mit aller Kraft
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