Allerliebste Schwester
sein können.«
Wohin? Eva blickt sich um. Hinter ihr, in der Auffahrt, Tobias. Vor ihr, auf der Straße, der Schwiegervater, vier Polizisten kommen angerannt, dicht gefolgt von zwei Weißkitteln. Eva lässt den Schläger fallen und
läuft los. Kommt nur wenige Meter weit, dann greifen Hände nach ihr, drehen ihr die Arme auf den Rücken, vor Schmerz schreit sie auf, krümmt sich, wehrt sich, alles ohne jeden Sinn und Zweck.
»Liebling!« Mit einem Satz ist Tobias jetzt bei ihr, doch er wird von zwei Beamten zurück gedrängt. In gebückter Haltung führen die anderen beiden Polizisten sie zum Krankenwagen, eine Trage steht schon bereit, auf die sie bäuchlings niedergedrückt wird.
»Fünf Milligramm Haloperidol«, erklingt eine Stimme, ob sie von einem der Notärzte oder von ihrem Schwiegervater stammt, kann Eva nicht sagen, mit einem Mal ist es so laut, laut, laut!
»Barbro! Barbro! Ich bin hier, hörst du mich? Ich bin hier!« Das Letzte, was sie wahrnimmt. Dann wird alles still und dunkel.
18
Gleißende Farben, sie schmerzen in Evas Augen. Sie sitzt auf einem roten Plastikstuhl, irgendjemand hat sie hier hingesetzt, vor ein paar Minuten, vor ein paar Stunden, seit Tagen oder Jahren hockt sie hier, auf dieser harten Sitzreihe aus roten Plastikstühlen. An den Wänden des langen Ganges, in dem sie auf ihrem Stuhl wartet - worauf, das weiß sie nicht -, hängen bunte Bilder, abstrakte Aquarellgemälde. Sie leuchten so grell, dass Eva den Blick abwenden muss. Aber auch der PVC-Boden, auf den sie nun starrt, strahlt wie frischer, glitzernder Schnee in der Mittagssonne. Eva schließt die Augen.
Und nun auch noch der Lärm. Das Klackern von Schuhsohlen vermischt sich mit dem Geräusch von sich öffnenden und wieder schließenden Türen und einem donnernden »Klong, Klong« aus der Ferne, als würden irgendwo zwei Riesen miteinander Tischtennis spielen.
Tischtennis. Sie erinnert sich daran, vor Kurzem irgendwo eine Platte gesehen zu haben. War das hier? Wo genau ist Eva eigentlich? Sie strengt sich an, nachzudenken,
sich logisch zu erklären, was passiert ist und was sie hier macht. Doch ihr Gehirn scheint eine zähe, träge Masse, jeder Gedanke, den sie zu fassen versucht, löst sich sofort wieder auf, entgleitet ihr.
Ein lauter Schrei lässt sie hochschrecken, ein gellendes Jammern, das aus einem der Zimmer am Ende des langen Flures zu kommen scheint. Dann schnelle Schritte, zwei Männer in weißen Kitteln rennen an Eva vorbei in die Richtung, aus der der Schrei gekommen ist. Bei ihrem Anblick bewegt sich etwas in Evas Kopf, schemenhaft steigen Bilder in ihr auf. Bilder, wie sie auf dem Rücken liegend durch einen Gang gerollt wird und sich nicht bewegen kann, an der Decke flackernde Neonröhren, fremde Gesichter, die sich über sie beugen und beruhigend auf sie einreden, obwohl Eva nicht verstehen kann, was sie sagen. Ein schmuckloses Zimmer, in dem sie landet, das Bett, auf das man sie legt, die Riemen, mit denen man ihre Arme und Beine fixiert, die Tablette, die sie ohne Gegenwehr einnimmt, und dann der Schlaf, der sie überkommt und aus dem sie hin und wieder hochfährt, mal ist es hell, mal dunkel, mal laut, mal leise.
»Hallo«, ein weiterer Mann im weißen Kittel nimmt auf einem der Stühle neben ihr Platz. Er trägt eine Nickelbrille, sein Gesicht wirkt freundlich. »Ich bin Doktor Neumann. Wie geht es Ihnen?« Auch an ihn glaubt sie sich vage erinnern zu können.
»Gut«, erwidert sie, mehr ein Reflex als eine ehrliche Antwort. Und widersinnig noch dazu, denkt sie im selben Moment, wer hier, auf diesen roten Plastikstühlen
sitzt, auf einem Flur, durch den Menschen laufen, wenn irgendwo jemand schreit, dem geht es ganz offensichtlich nicht besonders.
»Gut«, sagt der Mann jetzt auch, dann steht er auf und bedeutet ihr, ihm zu folgen. Er führt sie zu einer der vielen Türen, schließt sie auf, und sie betreten eine Art Besprechungszimmer, in dem ein weißer Tisch mit drei Stühlen steht. Der Mann setzt sich, Eva nimmt auf seine Anweisung hin ebenfalls Platz.
»Können Sie sich erinnern, was passiert ist?«, will er wissen. Sie schüttelt den Kopf.
»Nicht genau«, antwortet sie wahrheitsgemäß.
»Erinnern Sie sich daran, wie Sie hierhergekommen sind?«
»Da war ein Krankenwagen«, sagt sie unsicher.
»Das stimmt«, bestätigt der Arzt zu ihrer Erleichterung. »Es ging Ihnen nicht so gut, wissen Sie das noch?« Eva denkt angestrengt nach, aber noch immer ist alles in ihrem Kopf seltsam
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