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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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und das, dachte sie, hatte wiederum etwas mit seinen Filmen zu tun. Arno war ganz begeistert davon, aber Arthur hatte ihr noch nichts zeigen wollen. »Später, es sind erst Fragmente, ich weiß noch nicht, in welche Richtung es geht.« Was sie gesehen hatte, war der Dokumentarfilm, den er mit Arno gedreht hatte, der war einfach sehr gut, aber das war es offensichtlich nicht, was er anstrebte. Er besaß, wie sie es nannte, eine zweite Seele, und das war, wenn man darüber nachdachte, etwas genauso Unbeweisbares wie die Ideen Dysons, der dann wohl auch eine besaß. Offenbar war es noch nicht möglich, über diese Dinge nachzudenken, ohne in diese lächerlichen Kategorien zu verfallen. Geist, Gott, Seele. Besser den Ofen anmachen. Obwohl Dyson es hübsch ausdrücken konnte. »Materie ist die Art und Weise, wie Teilchen sich verhalten, wenn eine größere Anzahl von ihnen aneinandergeklebt werden.« Das hatte natürlich Charme, aber Falter auf dem Weg zum Thron, damit konnte sie, selbst wenn sie von Dante stammten, an einem Wintertag wie diesem wenig anfangen.
    Victor Leven war in dem Augenblick, als Zenobia Stejn und Arno Tieck widerstrebend ihr warmes Bett verließen, bereits eine gute Stunde auf. Sein Wecker rief schrill und gnadenlos, und ihm mußte gehorcht werden. Gymnastik, rasieren, eiskalte Dusche, Kaffee, kein Frühstück, keine Musik, keine Stimmen, anziehen wie um auszugehen, untadelig gekämmt, ins Atelier, sich auf den Stuhl vor das Werkstück setzen, an dem er gerade arbeitete, schauen und damit für mindestens eine Stunde fortfahren, bevor er die erste Bewegung machen würde. Was er dabei dachte, wußte er selber nicht, und das war kein Zufall, sondern Training.
    »Ich will nichts denken«, hatte er einmal zu Arthur gesagt, »und das ist verdammt schwer, aber man kann es lernen. Du wirst sagen, das geht nicht, das sagt nämlich jeder – wenn du so dasitzt und schaust, denkst du doch irgendwas, aber das stimmt nicht. Oder stimmt nicht mehr. Über das, was man tut, zu sprechen, ist Blödsinn, aber schön, weil du es bist: Ich denke nichts, weil ich dieses Ding werde. Gut so? Ende des Gesprächs.«
    *
    Manchmal gab es das, ein Licht, das alles straff gespannt aussehen ließ und den Eindruck erweckte, der Himmel könnte zersplittern wie Kristall. Der Potsdamer Platz war jetzt eine weite, offene Fläche, der gefrorene Schnee auf den Baggern machte eine kubistische Szene daraus. Er filmte, fast kämpfend gegen das reflektierende Licht. Weg war alles vom vorigen Abend. Die Polizistin, der Rettungswagen, alles war nie dagewesen, was da war, bestand höchstens noch in einigen obskuren, ruckenden Filmbildern, die er geschossen hatte. Jetzt mußte er noch den Bauzaun aufnehmen. Jemand hatte ihn geschlossen. Er versuchte ihn aufzureißen, rutschte aus. Jetzt war er es, der mit dem Kopf an das Eisen schlug. Er versuchte seine Kamera zu retten, knallte mit dem Rücken auf den gefrorenen Boden, spürte, wie ihm etwas aus der Tasche rutschte, versuchte sich aufzurappeln, kniete da und starrte auf ein Foto von Thomas, das ihm aus der Brieftasche geglitten war und ihn inmitten einiger Kreditkarten anlachte.
    »Kann ich Ihnen helfen?« Eine Art Wachmann.
    »Nein danke.«
    Dies war kein Zufall. Seine Toten ließen ihn noch immer nicht in Ruhe. Aber er wollte nicht. Er hielt sich am Zaun fest und zog sich hoch. Die Kamera stellte er in den Schnee, um das Foto aufzuheben.
    »Ich habe keine Zeit«, murmelte er. Durfte man so etwas sagen? Er steckte das Foto weg, aber das half nicht. Egal wohin er ginge, sie würden weiter an ihm zupfen, ihn begleiten. Er war hier, aber sie waren allgegenwärtig, sie hatten keinen Ort mehr und waren überall, sie hatten keine Zeit mehr und waren immer da. Sie haben keine Zeit mehr, dieser elende Satz stammte Gott sei Dank nicht von ihm selbst, sondern von dem katholischen Priester bei der Beerdigung. Darauf hatten ihre Eltern bestanden, und in der Verwirrung jener Tage war er einverstanden gewesen, genauso wie er einverstanden gewesen war, daß Thomas getauft wurde, auch wenn er es für Unsinn hielt. Er war ohne jede Religion aufgewachsen, und Roelfje praktizierte ihren Glauben nicht mehr, wie Katholiken das nannten, etwas, was ihre Eltern ihm immer übelgenommen hatten. Diese Taufe war die erste katholische Zeremonie, die er aus der Nähe erlebte, plötzlich war der Mann, den sie eben noch in ganz gewöhnlichen Menschenkleidern im Pfarrhaus gesehen hatten, in weißen bestickten Gewändern

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