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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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durch eine Seitentür in die Kirche getreten, sein Schwiegervater hatte Roelfje das Kind abgenommen und merkwürdige Texte gesprochen, die ihm mehr oder weniger vorgesagt wurden, wie zum Beispiel »Schwörst du dem Teufel ab?« – »Ich schwöre ab«, und in der nachfolgenden Sequenz hatte der Mann jedesmal »Ich schwöre ab« geantwortet, weil Thomas das noch nicht selbst sagen konnte, und Arthur hatte daneben gestanden und diese afrikanische Beschwörungszeremonie mit einer Art Wut gefilmt. Er hatte das Gefühl gehabt, sein Kind würde ihm mit diesem ganzen heidnischen Mumpitz weggenommen. Aber hier war er ja der Heide, das hatte er ganz deutlich an den Nahaufnahmen erkennen können, die er von Roelfje gemacht hatte, an den glänzenden großen Augen, mit denen sie das ganze Theater verfolgt hatte. Später hatte sie gesagt, daß sie es »doch irgendwie schön« finde, zwar glaube sie nicht daran, aber ganz ohne sei auch wieder so kahl, und nun habe sie das Gefühl, daß Thomas mit einer gewissen Festlichkeit in der Welt empfangen, willkommen geheißen worden sei. Wenn man nicht glaube, schade es ja eigentlich auch nichts, aber so sei es doch ein bißchen, als hätten sie seine Geburt gefeiert, und außerdem mache sie ihren Eltern damit eine Freude. Er hatte nicht gesagt, daß ihm klar sei, daß es nicht um ihre Eltern gehe, sondern daß in ihr selbst noch etwas von diesem Aberglauben durchschimmere, als habe ihr Sohn durch diese wenigen Handlungen und Zaubersprüche des nicht unbedingt wohlriechenden Priesters mit seiner leicht ekstatischen, tuntigen Art zu sprechen doch so etwas wie ein wenig zusätzlichen Schutz mitbekommen. Vielleicht hatte er nichts gesagt, dachte er, weil das einer der geheimen Gründe war, warum er sie liebte, eine abergläubische Frau, die nie ganz von dieser Welt war. Langsam, das war das Wort, das er sich dafür überlegt hatte. Red keinen Stuß (das war Erna), was dich anzieht, ist einfach die Tatsache, daß sie nicht modern ist, aber das klang ebenso unsinnig wie altmodisch, dann war langsam schon besser, und dabei war es geblieben. Eine Frau, die ihr eigenes Tempo in der Welt festgelegt hatte, seine langsame Frau, die einen so schnellen Tod gestorben war. Gleich nachdem er die Nachricht erhalten hatte, war er nach Spanien geflogen, die Fluggesellschaft hatte ihn gebeten, Röntgenaufnahmen von Roelfjes und Thomas’ Zähnen mitzubringen. Schon da hatte er begriffen, daß er sie wahrscheinlich nicht mehr würde sehen dürfen, und so war es auch. Bis zur Unkenntlichkeit verstümmelte Leichen, so hieß es in der Zeitung, doch er hatte sich darunter nichts vorstellen wollen, das war genauso abstrakt wie die Aufnahmen, die ihm der Erkennungsdienst zurückgegeben hatte, als hätte er dafür noch eine Verwendung. Er hatte sie in seinem Hotelzimmer zerrissen, gräuliche, glänzende Zähne aus Zelluloid, die in gesichtslosen Kiefern steckten, das war alles nichts, nicht einmal der große und der kleine weiße Sarg nebeneinander in derselben Kirche mit den geschmacklosen Bleiglasfenstern aus den dreißiger Jahren, das gelbe Backsteingewölbe, aus dem die Worte dieses elenden Pfaffen auf ihn zugekommen waren, die er nie mehr vergessen konnte. Der Mann, derselbe wie bei der Taufe, hatte ihre Vornamen genannt, als ob es seine eigene Frau und sein eigenes Kind gewesen wären, »Roelfje und Thomas haben uns verlassen. Sie konnten nicht mehr bleiben. Sie haben keine Zeit mehr.« Unerträglich, dieser üble rhetorische Trick, und dann auch noch diese weibische, affektierte Stimme, diese elende Aufeinanderfolge einer vergangenen und einer gegenwärtigen Zeit, sie konnten nicht mehr bleiben, sie haben keine Zeit mehr, haben, sie waren also immer noch da, nun jedoch mit diesem einen fehlenden Element, Zeit, etwas, was man nicht haben kann wie zum Beispiel Geld oder Brot, das man irgendwo holen oder kaufen konnte. Die Zeit heilt alle Wunden, doch das war offensichtlich eine andere Zeit, eine, die man noch hatte. Und auch das war eine Lüge, denn nichts heilte, nicht daß er wüßte. Er stampfte so fest mit dem Fuß auf, daß er es bis in den Schädel hinein spürte. Hörte das denn nie auf? Tote waren schlau, sie überfielen einen immer, wenn man nicht darauf gefaßt war. Trauer. Für jedes Jahr drei Jahre Trauer, hatte Erna gesagt. O, Erna, damn it. Er drehte sich um, ob jemand hinter ihm stand, und dachte, jetzt reicht’s aber, laßt mich in Ruhe. Heute nicht, Milchmann. Weg. Er wußte, wo er hinging.

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