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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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Auch er hatte seine Götter. Das war zwar ebenfalls Unsinn, aber trotzdem. Schnell, als würde er noch verfolgt, ging er in Richtung Brandenburger Tor, die Augen auf die glatten gefrorenen Fußstapfen im Eisschnee geheftet. Er nahm die Filmkassette aus seiner Kamera und legte eine neue ein. Eigenartig, so ein Bürgersteig! All diese Grau- und Weißtöne. Breite Füße, schmale Absätze, Stiefel, in der Nacht und am Morgen mußten doch noch eine ganze Menge Leute hier entlanggegangen sein, alle hatten sie ihre Abdrücke im Schnee hinterlassen, der dann mitsamt diesen Stempeln gefroren war. Passanten, so hießen die Leute, die da gegangen und jetzt verschwunden waren, nachdem sie den Weg, den sie gegangen waren, markiert hatten. Die Körper, die auf diese Füße gedrückt hatten, befanden sich nun irgendwo anders. Er beschloß, einem markanten Abdruck eine Zeitlang zu folgen, filmte im Gehen, die Kamera so nah wie möglich auf die Spur gerichtet. Links von ihm standen die entblätterten Bäume des Tiergartens, schwarze Pfähle, der Schnee auf den Ästen wie ein weißer Schatten. Er dachte, daß er das Bild dieser Abdrücke mit Füßen, die eine U-Bahntreppe hinuntergehen, in Verbindung bringen würde, eine Menge unterwegs, ohne erkennbares Ziel, Bewegung, die, wie hier, ihr leeres Bild zurückließ und irgendwo anders unaufhörlich weiterging. Wie lange konnte man so etwas aufnehmen, um diese Unaufhörlichkeit zu suggerieren? Die Unendlichkeit? Doch das klang schrecklich, und genau dieses Schreckliche war es, das etwas mit seinem ganzen Projekt zu tun hatte, dieser verrückten Idee, die vor ihm auswich, die er nie wirklich zu fassen bekam, die ihm, dachte er, hoffte er, klar werden würde, wenn er genug Bilder gesammelt hatte. Er hatte Zeit, er schon.
    »Die gesamte Menschheit, gesehen durch das Prisma Berlins?« Das war Victor.
    »Nicht nur Menschen, und nicht nur Berlin.«
    »Und was«, hatte Victor gefragt, »ist dann dein Kriterium?«
    Immer wieder dieselbe Frage und nie die richtige Antwort.
    »Mein Instinkt?«
    »Ich höre das Fragezeichen. Wird dieser Instinkt noch von irgend etwas regiert?«
    »Von meiner Seele«, hatte er sagen wollen, aber eher hätte er sich die Zunge abgebissen.
    »Von mir«, sagte er.
    »Kannst du in einem Wort sagen, worum es geht?«
    Nein, konnte er nicht. Man konnte ja schwerlich sagen, »um den Gegensatz«. Und doch war es das. Die Füße gingen irgendwohin. Sie hatten ein Ziel. Und gleichzeitig verschwanden sie. Anonyme Schritte. Blindes Ziel. Verschwinden. Die blinde Kraft, die Menschen zu etwas hintrieb, das mit ihrem Verschwinden endete. Nur wenn man wußte, daß man auf diese Weise betrogen wurde, konnte man noch etwas daraus machen. Und es zeigen. Aber er sagte nichts.
    »Kunst ist Präzision«, sagte Victor. Das saß. »Präzision und Organisation. Rechnest du auch manchmal damit, daß es mißlingt?«
    »Ja, aber dann habe ich es immerhin gemacht.«
    »Jagen ohne Beute? Um des Jagens willen? Treiber, Halali, Hundegebell?«
    »Ja, so ungefähr, aber allein. Ohne Hunde.«
    Am Tag darauf hatte er von Victor mit der Post ein flaches Päckchen bekommen, in dem eine CD lag von einem Komponisten, der ihm nichts sagte. Ken Volans. Auf dem Cover war das Farbfoto einer weiten, flachen Landschaft, Wüste, Savanne, leer. Er hatte sofort an Australien denken müssen, wo er einmal als Kameramann an einem mißlungenen Dokumentarfilm über die Aborigines mitgewirkt hatte. Es war darum gegangen, anhand des Buchs von Chatwin etwas über Songlines zu erklären, aber der englische Regisseur hatte dieses Buch offensichtlich nicht verstanden und die menschlichen Wracks weit interessanter gefunden, die, von ihrem Volk ausgestoßen, am Rande der Großstädte gelandet waren, nach Bier stinkende schwarze Männer und Frauen, die ihren Platz auf dem eigenen Kontinent verloren hatten und, sofern man sie überhaupt verstehen konnte, nichts Poetisches über die Art und Weise zu berichten wußten, wie ihr Volk einst Tausende von Kilometern zurückgelegt hatte, ohne sich in diesen leeren Landschaften zu verirren, weil sie ihren Weg durch diese Landschaft singen konnten. Alles, was für ein ungeübtes Auge eine eintönige Sandfläche war, in der man umkommen würde, falls man sie allein durchquerte, enthielt Zeichen, die Eingang in endlose Sprechgesänge gefunden hatten. Gesungene Landkarten. Auch dort hatte er die Füße filmen wollen. Statt dessen waren es Bierflaschen geworden.
    Jagen, sammeln, er konnte sich

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