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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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das Lächeln vorstellen, mit dem Victor die CD eingepackt hatte. Erst später erfuhr er, daß nicht Australien, sondern Afrika den Komponisten inspiriert hatte, doch die Wirkung der Musik blieb die gleiche, ein anhaltender, eindringlicher Rhythmus, der das ganze Stück über beibehalten wurde und bei dem man eigentlich nichts anderes sehen konnte als Menschen unterwegs durch baumlose Landschaften, Menschen, die ihr Tempo keine Sekunde lang verringern würden. Ein Gespräch hatte er darin gehört, an dem sich alle beteiligten, weiß der Himmel, worum es ging, wovon sprachen Menschen, die durch so eine Landschaft zogen, die Wasser finden konnten, wo man selbst nur Dürre sah, und Nahrung fanden, wo man selbst verhungern würde. Männer und Frauen, sprechende Wesen, die einen ganzen Kontinent für sich allein hatten, auf dem alles einen Namen und eine Seele hatte, eine Schöpfung, die für sie allein geschaffen war, in der ihre Vorfahren gelebt hatten, solange man in der Zeit zurückblicken konnte. Traumzeit, eine Form der Ewigkeit. Wie wäre es gewesen, in einer solchen Welt zu leben?
    Er erinnerte sich, daß er eines Nachts in Alice Springs entgegen allen Warnungen einen Spaziergang gemacht hatte. Sobald er die letzten Häuser hinter sich gelassen hatte, war der Himmel auf ihn gefallen, anders konnte man es nicht ausdrücken. Er war noch ein Stück weitergegangen, weil er sich nicht eingestehen wollte, daß er Angst hatte. Angst wovor? Vor nichts natürlich, Angst war auch nicht das richtige Wort, Furcht war es, wirkliche Furcht vor der absoluten, rauschenden Stille, vor dem trockenen, staubigen Geruch des Landes, vor dem leisen Geraschel, vor einem kaum spürbaren Hauch, irgendeinem Blatt, atmenden, flüsternden Geräuschen, die die Stille nur noch gefährlicher machten. Und plötzlich, wirklich aus dem Nichts, hatten drei Gestalten dagestanden, wie aus dem Erdboden geschossen, im halben Mondlicht hatte er sogar das Gelb ihrer Augen in den schweren schwarzen, glänzenden Gesichtern erkennen können, die gut und gern tausend Jahre von seinem entfernt waren, weil sie, dachte er, das ihre nie hatten verändern müssen, da ihre Welt bis vor kurzem unverändert geblieben war. Keiner sagte etwas, auch er nicht. Er stand ganz still und sah sie an, und sie sahen zurück, ohne Feindschaft, ohne Neugier, nur leicht schwankend, als hätten sie die Bewegung ihres fortwährenden Gehens noch nicht verloren. Sie rochen nach Bier, aber er hatte nicht den Eindruck, daß sie betrunken waren.
    »Das hätte aber verdammt schiefgehen können«, sagte man ihm später, doch er glaubte es nicht. Die Angst, die er zuvor verspürt hatte, war plötzlich verschwunden, doch statt dessen war er sich armselig vorgekommen, weil er nicht in diese Welt gehörte, unzulänglich, weil er hier keine Woche überleben würde, nicht nur, weil er kein Wasser und keine Nahrung finden könnte, sondern auch, weil es hier keine Geister gab, die bereit waren, ihn zu beschützen, weil er nie in einem Lied mit diesem Land sprechen könnte und so, taub und stumm, sich für immer verirren würde.
    Und jetzt (jetzt!) stand er hier, ein Idiot am Brandenburger Tor. Er ging zu der Figur der Pallas Athene in einer der Nischen und legte eine Hand auf ihren großen nackten Fuß. Das einzige, dachte er, was ein australischer Ureinwohner erkennen würde, abgesehen von ihrem zu großen Menschenleib und den gewaltigen steinernen Gewändern, die über ihre großen Brüste und die mächtigen Knie drapiert waren, war wohl die Eule auf ihrem Helm und vielleicht die Lanze. Wieviel Vergangenheit konnte man eigentlich in sich selbst verkraften? Es hatte etwas Verächtliches, so schnell von Geistern zu einer Göttin gehen zu können, von schwarzen nackten Menschen mit weißer Körperbemalung zu gut eingepackten Teutonen, von einer Wüste zu einer Eisfläche. Er blickte auf die Figur, diese Göttin, die nicht mehr verehrt wurde. Die ganze Welt war ein Verweis, alles verwies auf etwas zurück, Eule, Helm und Lanze, Verästelungen, Linien, Spuren, die an ihm hafteten, Gymnasiallehrer, Griechisch, Homer, es waren nicht nur die Toten, die ihn nicht in Ruhe ließen, es war die endlose Zeit, die er gelebt zu haben schien, und ein dazugehörender, unübersehbarer Raum, in dem er sich wie die Geringste der Ameisen auf dem Weg befand von einer australischen Eiswüste zu dieser griechischen Göttin seiner Schulzeit, die vorübergehend, erst ein paar hundert Jahre, Obdach in einem Tor mit

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