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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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dorischen Säulen gesucht hatte, durch das Friedrich Wilhelm und Bismarck und Hitler gezogen waren und wo sie jetzt auf ihrem fetten Arsch saß und irgend etwas behauptete, was ein triumphales achtzehntes Jahrhundert ihr eingeflüstert hatte, etwas, das niemand mehr verstand.
    Wie Ebbe und Flut waren Truppen durch diesen Spülkasten der Geschichte gezogen. Wenn man doppelt so alt war wie er jetzt, mußte es kaum mehr auszuhalten sein. Verirrt im Myriadennetz eines Computers, gäbe es nichts, das einen nicht an dieses oder jenes erinnern wollte. Oder war er der einzige, der darunter litt? Geistererscheinungen! Wie oft hatte er dieses Siegestor schon im Film gesehen, bevor er es in Wirklichkeit gesehen hatte? Die menschlichen Karrees, sich bewegende Vierecke marschierender Männer, alle Gesichter in eine Richtung gewandt, das Geräusch ihrer Stiefel, die vollkommen gleiche, maschinenhafte Bewegung, die jetzt für immer angehalten war, weil auch Maschinen sterben konnten, die offenen Mercedeslimousinen, der gestreckte Arm, das umgedrehte Runenzeichen. Ihre Vorgänger aus dem vorigen Krieg hatten sich wegen der primitiven Filmtechnik noch mit nervösen Trippelschritten bewegen müssen und waren dadurch noch gnadenloser ihrer Menschlichkeit entblößt, enervierte kleine Räder, die in hitzigem Tremolo von hier aus in ihre Schützengräben getrippelt waren, als hätten sie es eilig zu sterben. Sie alle waren hier marschiert und hatten etwas nicht mehr Feststellbares gedacht.
    Er war dabeigewesen, als sich dieses Tor erneut geöffnet hatte, wieder eine Euphorie, er würde wohl auf diesen Bildern zu sehen sein, als Menge verkleidet, jemand, der genau wie das ihn umringende Bildmaterial denken konnte, etwas dachte und wahrnahm, der die Euphorie in sich eingesogen hatte und spürte, wie er mitgesogen wurde, hierhin, dorthin. Er hatte wieder auf dem hohen Podest gestanden und in die bis dahin verbotene Welt geschaut, hatte gesehen, wie junge Menschen auf der Mauer tanzten, die damals noch stand, Abend war es, der erste Abend, die Tanzenden wurden von Wasserwerfern bespritzt, aber es kümmerte sie nicht, die weißen Wasserschleier wurden von Scheinwerfern beschienen, er hatte auf die wirbelnden Gestalten der Tanzenden geschaut, auf die durch nichts zu vergällende Freude, und für einen Moment hatte er, vielleicht zum erstenmal in seinem Leben, das Gefühl gehabt, zum Volk zu gehören, nein, nicht zum Volk, sondern zu Volk. Nicht nur auf dieser Mauer, auch unter ihm wurde getanzt, zu Füßen dieses Podests, gleich hinter dem Reichstag, eine blonde Frau hatte ihn an der Hand gefaßt und zwischen die Tanzenden gezogen. Er war mit ihr mitgegangen, erst in eine Kneipe und später zu ihr, irgendwo in Kreuzberg, und danach war er die langen, langen Straßen nach Hause zurückgegangen und hatte sie nie wiedergesehen. Er erinnerte sich daran wie an einen Glücksmoment, weil er frei gewesen war von jedem anderen Gedanken. Ihr strahlender Blick, ihre Festfreude hatten für dieses eine Mal alle anderen Erinnerungen gelöscht, keine Wohnung, keine Einrichtung, kein Name war geblieben, nur dieses Strahlen und ein geflüsterter Abschied, ein kleines Ereignis als Teil der allgemeinen Freude, etwas, das von Natur aus dazugehörte, wenn man Volk war, fast so, als hätte er einem Naturgesetz gehorcht, genauso wie fünfzig Jahre zuvor in ebendieser Stadt Plündern, Brandstiften und Vergewaltigen mit dazugehört hatten. Er blieb stehen. In welche Richtung sollte er gehen? Jetzt hätte er diese Frau gern wiedergesehen, aber er wußte nicht mehr, wie sie hieß oder wo sie wohnte, und außerdem würde das auch gegen die Abmachung verstoßen, die sie nie getroffen hatten. In welche Richtung sollte er gehen: Nur wer diese Frage jederzeit stellen kann, ist in seinem Leben völlig frei. Das hatte sein Griechischlehrer gesagt, anhand des Beispiels von Odysseus, wie er sich erinnerte. Erst später war er dahintergekommen, daß das nicht stimmte. Schlau war Odysseus, aber nicht frei, genausowenig wie er selbst. Die Hälfte der Zeit hatte Athene dem listigen Helden zu Hilfe eilen müssen, um ihn in dieser oder jener Gestalt zu retten. Da war sie wieder, die Göttin. Aber wenn das noch immer so war? Wenn diese Frau, dieses Mädchen, in jener Nacht etwas anderes gewesen war als ihr sichtbares Selbst, wenn man einen einzigen Augenblick lang an ein göttliches Wesen glauben konnte, das dein Schicksal begleitete, konnte sie dann nicht dessen namenlose

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