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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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Verkörperung gewesen sein, »eine junge Frau«, »eine Hirtin«, »eine alte Frau«, jemand, der ihn vorübergehend aus seinem Autismus erlöst hatte?
    Er schaute zu der Figur der Athene, doch sie schaute über ihn hinweg. Götter sahen einen nie, es sei denn, sie wollten einen sehen. Odysseus hatte Glück gehabt. Jemand hatte ihm den Weg gezeigt. Sie hätte es vielleicht einfacher tun können, doch dann wäre die Geschichte nicht so schön gewesen. Er machte eine Aufnahme, die er schon einmal gemacht hatte, einen langen Schwenk, der bei den Baugruben am Potsdamer Platz begann und dann äußerst langsam über das Brandenburger Tor zum Reichstag ging. Aus der Hand, das leichte Wackeln gehörte einfach dazu. Nichts stand fest, und hier schon gar nicht. Deutsche hatten, wenn man’s recht betrachtete, wenig Glück gehabt. Sie hatten immer genau gewußt, wo sie hinmußten, waren aber geschlagen zurückgekehrt.
    »Das ist vielleicht ein eigenartiger Grund, sie zu lieben.« Victor.
    Oh, hätte er doch nur kein topographisches Gedächtnis! Denn hier war es gewesen, natürlich wieder genau hier, wo sein Freund diese Worte ausgesprochen hatte. Und natürlich war wieder ein Wort dabeigewesen, das bei ihm hängengeblieben war, weil es überhaupt nicht zu der Umgebung gehört hatte, und das war das Wort Puder. »Das ist ein eigenartiger Grund, sie zu lieben.« Damit hatte das Gespräch begonnen oder, besser gesagt, ein Teil des Gesprächs, denn ein Spaziergang mit Victor war eine peripatetische Vorlesung, bei der diesmal das Scheunenviertel, die Synagoge, der Prenzlauer Berg, der Tod des Schriftstellers Franz Fühmann in der Charité und natürlich der Reichstag und das Brandenburger Tor zur Sprache gekommen waren.
    »Sie lieben sich selbst nicht, und sie lieben einander nicht. Also muß ich es wohl tun.«
    Bei solchen Gelegenheiten wußte Arthur nie, ob Victor ihn nicht veräppelte.
    »Puder.«
    »Was?«
    »Puder ist es. Fühl mal.« Er hatte die Hände in die Luft gestreckt und danach die Zeigefinger- und Daumenkuppen aneinandergerieben, als befände sich etwas dazwischen. Danach klopfte er sich die Hände ab. Puder.
    »Spürst du das denn nicht?«
    »Was sollte ich spüren?«
    »Man sieht, daß du kein Bildhauer bist.«
    Ein Frühlingstag war es gewesen. Er hatte gesehen, daß die anderen Spaziergänger zu Victor geschaut hatten, einem untadelig gekleideten Herrn mit seidenem Halstuch und dunkelglänzender Frisur, der in die Luft griff, etwas herausnahm, das nicht da war, und sich dieses Nichts dann von den Händen klopfte. Zaubertricks.
    »Alles ist voll davon. Es sitzt in ihren Augen. Darum sehen sie nicht gut. Jetzt auch wieder nicht. Wiedervereinigung, es will ihnen nicht in den Kopf. Sie bekommen ein ganzes Land geschenkt und wissen nichts damit anzufangen. Erinnerst du dich noch an die Euphorie? Wie sie mit Bananen am Checkpoint Charlie standen? Brüder und Schwestern? Und hast du sie in letzter Zeit gehört? Wie die aussehen, wie die sich benehmen? Rassistische Witze über Leute mit derselben Hautfarbe. Was die alles nicht können, wofür die zu faul sind. ›Wir konnten auch nicht gleich nach dem Krieg nach Mallorca, aber die hocken da schon.‹ ›Die eine Hälfte hat die andere bei der Stasi angezeigt, und die haben wir jetzt dazubekommen.‹ ›Meinetwegen hätten sie die Mauer nicht abzureißen brauchen.‹ ›Mit denen kann man doch nicht in einem Land leben, diese vierzig Jahre kriegst du nie wieder raus, das ist ein anderes Volk.‹ Und so weiter, die ganze Leier.«
    »Und die andere Seite?«
    »Die fühlt sich verarscht, wundert dich das? Erst offene Arme und hundert Mark, aber jetzt: Wollen wir uns doch mal unser altes Haus anschauen, und: Verkauf diese Fabrik lieber an uns, wir können das besser. Auf beiden Seiten Groll, Argwohn, Neid, Abhängigkeit, Puder, der sich überall festsetzt. Hast du deine aufgeklärten Berliner Freunde schon gehört? Die hatten so eine schöne Enklave. Subventionen für den Fall, daß du bereit warst zu kommen, Theaterparadies, Ateliers für Künstler, keine Wehrpflicht. Alles vorbei. Die Mauer können sie ruhig abreißen, sie bleibt trotzdem stehen. Und dann gibt’s noch die im Westen, die verabscheuen sich selbst so sehr, die sagen, man hätte es so belassen müssen, weil es doch soviel Schönes und soviel Solidarität gab. Schon möglich, dann mußt du dir nur die Jagdreviere der obersten Parteibonzen anschauen, die Apotheose des kleinbürgerlichen Parvenüstaats. Das mußt

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