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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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du dir mal vorstellen, ein angeblich unabhängiges Land, eingeklemmt zwischen Polen und dem dicken Westen. Siehst du, wie es leerströmt, wie es demontiert wird? Dann wären sie erst richtig kolonisiert gewesen, jetzt muß der Westen zumindest noch zähneknirschend für den Traum bezahlen. Und jeder weiß genau, wie der andere sich hätte verhalten müssen, in jedem Keller liegen Leichen, alle Berichte, Listen, Prozesse sind aufbewahrt und schlummern irgendwo weiter mitsamt allen Namen und Decknamen. Du mußt dich mal auf dieser Seite in die U-Bahn setzen und bis zur Endhaltestelle im Osten fahren. Du glaubst, du halluzinierst, noch immer. Und dann mußt du wirklich alten Leuten ins Gesicht schauen, Köpfe mit Brennesseln und Spinnweben, die alles überlebt haben. Viele gibt es nicht mehr davon, aber immerhin noch welche. Vergleich das Jahrhundert dieser Menschen mit dem eines Amerikaners. Kaiserreich, Revolution, Versailles, Weimar, Wirtschaftskrise, Hitler, Krieg, Besetzung, Ulbricht, Honecker, Wiedervereinigung, Demokratie. Doch eine eigenartige Wegstrecke, würde man sagen. Und noch immer in derselben Stadt, mitgemacht oder nie mitgemacht, auf der richtigen Seite, auf der falschen Seite, zwei, drei, vier Vergangenheiten, die in sich zusammengebrochen sind, ein ganzes Geschichtsbuch hat sich in diese Gesichter gekerbt, Kriegsgefangenschaft in Rußland, im Widerstand gewesen oder mitgelaufen, Scham und Schande, und dann wieder alles weg, verschwunden, Fotos in einem Museum, Fähnchen schwenkend, Erinnerungen, Puder, nichts mehr, nur noch die anderen, die nichts davon begreifen. Und was haben wir jetzt? Sag nicht, daß das keine schöne Arie war.«
    »Warum wohnst du hier eigentlich noch?« fragte Arthur.
    »Dann hast du nichts verstanden. Weil ich hier wohnen will . Hier passiert es, merk dir meine Worte.« Und er hatte mit dem Finger die gleiche Bewegung gemacht wie Arthur mit seiner Kamera, die Gebäude, die leeren Flächen, der Phallus des Fernsehturms am Alexanderplatz mit dieser monströs aufgeblähten silbernen Schwellung in der Mitte. Am selben Abend, nun aber in Gegenwart von Arno, hatte Arthur versucht, Victor zur Wiederholung seiner Tirade zu bewegen, weil er hören wollte, wie Arno darauf reagieren würde, doch Victor, der im Beisein mehrerer Leute meist nur in kurzen Sätzen sprach, schien das Feuer vom Morgen verloren zu haben, und das Wort Puder war nicht mehr gefallen. In diesem Augenblick fragten ihn ein Junge und ein Mädchen nach dem Weg. Sie hatten so eine elende Faltkarte, die den Eindruck erweckt, die Welt sei bereits in Stücke zerrissen, bevor man sich je in ihr hat zurechtfinden können. Die Frage wurde in unzulänglichem Deutsch gestellt, durch das das Spanische strahlend durchschien, doch es wunderte die beiden anscheinend nicht, daß er auf spanisch antwortete. Die Inhaber – so nannte er sie – großer Sprachen, sei es nun Deutsch, Englisch oder Spanisch, schienen es immer selbstverständlich zu finden, daß weniger Gesegnete, die das Unglück besaßen, in einer Geheimsprache geboren zu sein, die Konsequenz daraus zogen und dafür sorgten, daß sie sich trotz dieses Mangels verständlich machen konnten. Mit vor Kälte steifen Händen versuchten sie zu dritt, Berlin wieder zusammenzufügen, und Arthur zeigte ihnen die heiligen Stätten auf der Karte und in der Realität, als wäre er der Wärter dieses historischen Museums und stünde täglich an dieser Stelle, um Besuchern den Weg zu zeigen. Sie dankten ihm ausgiebig (»Ihr Deutschen seid immer so freundlich«) und ließen ihn zurück mit einem plötzlichen Heimweh nach Spanien, nach anderen Geräuschen, anderem Licht, Licht, das nicht, wie hier, übergrell vom Schnee reflektiert wurde, so daß alles gläsern wurde und kurz vor dem Bersten stand.
    Auch in Spanien konnte einem das Licht entgegenknallen, so daß man Gott weiß was anstellen mußte, um noch ein ordentliches Bild zu bekommen, doch dort schien es, als sei das Licht immer da, sei Teil der Landschaft, keine ekstatische Ausnahme wie an einem Tag wie diesem, wodurch alles unwirklich wurde.
    Er drehte sich um seine eigene Achse, als filmte er noch. Der gräßliche Neubau an der Grotewohl-Straße (»nur Parteibonzen durften so nahe an der Mauer wohnen«) schien zu schweben. Er überlegte, wie viele Städte er so gut kannte, daß er auch blind in ihnen herumlaufen könnte. Die Entfernung zu all diesen Gebäuden war eine physische Sensation, er war organisch mit ihnen verbunden,

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