Alles auf Anfang Marie - Roman
Ausreise. Hierbleiben.«
»Ich sagte Ausweis. Pass. Den muss Ihre Frau mitbringen. Und Sie auch. Am Donnerstag.«
»Donnerstag. Hier. Morgen.«
Was konnte die Frau hinter dem Tresen tun, um sicherzugehen, dass der Mann sie richtig verstand? Ich war so gespannt, dass ich fast übersehen hätte, dass ich jetzt dran war. Aber nun stand ich vor einer anderen Mitarbeiterin, die mich erwartungsvoll ansah.
»Ich möchte wieder arbeiten«, sagte ich und war nach dem gerade gehörten Gespräch ganz stolz. Ein vollständiger Satz! Und jetzt würde mich die Dame alles Weitere fragen.
Das tat sie aber nicht, sondern schob mir zunächst einen recht umfangreichen Fragebogen zu. Für sie war das ja auch längst nicht so weltbewegend wie für mich. »Dann füllen Sie doch zunächst mal das aus«, sagte sie und wies auf ein kleines Tischchen in der Nähe des Computers. Na gut. Dann eben so. Ich grub einen Stift aus meiner Tasche und begann, die vorgegebenen Kästchen wie gewünscht mit Druckbuchstaben zu beschriften. Bei Name und Adresse ging das noch schnell. Aber dann! Jetzt wollte der Fragebogen nämlich Daten haben. Wann war ich wo zur Schule gegangen? Welche Abschlüsse hatte ich wann gemacht?
Gar nicht so einfach, denn das alles war schrecklich lange her. Ich musste schon rechnen, in welchem Jahr ich Abitur gemacht hatte. Dann die Ausbildung – hatte die nun zweieinhalb oder drei Jahre gedauert? Wie konnte ich das von hier aus herausfinden? Gab es das wirklich,dass man sich noch nicht mal an solche persönlichen Daten mit Sicherheit erinnern konnte? Und warum musste ich das hier eintragen? Wussten die denn nicht schon alles von mir? Was würde passieren, wenn sie mir nachweisen konnten, dass ich ein falsches Datum eingesetzt hatte?
Sehnsüchtig sah ich zu den Computern hinüber. Einer der Tätowierten hatte seinen Platz inzwischen verlassen, aber auch ein freier PC konnte mir nicht helfen, denn über mein Leben stand nichts im Internet. Ich könnte höchstens versuchen, bei Wikipedia mehr über beginnende Alzheimer-Symptome zu erfahren. Aber für den Fragebogen nützte mir das nichts.
Schließlich beschloss ich, nach dem Motto »Wer nichts riskiert, der nicht verliert« zu handeln, das wahrscheinlichste Datum einzutragen und davon ausgehend alle weiteren zu berechnen. Immerhin konnte ich mich noch an Jahr und Tag meiner Eheschließung erinnern sowie an die Geburten der Kinder. Nach Lottas Geburt hatte ich nicht mehr gearbeitet, und damit war dann auch der Punkt erreicht, zu dem ich nichts Weiteres eintragen konnte: fünfundzwanzig Jahre nichts. Es hatte sich anders angefühlt.
Als ich wieder nach vorn ging, um die Blätter abzugeben, stellte ich fest, dass ich das Ende der Diskussion am ARG E-Tresen verpasst hatte. Nun würde ich niemals erfahren, ob der Mann und seine Frau am Donnerstag zusammen mit ihren Ausweisen erscheinen würden, es sei denn, ich legte mich den ganzen Vormittag auf die Lauer, aber so wichtig war es mir dann auch wieder nicht.
»Nehmen Sie doch bitte einen Moment Platz«, sagte die Dame, die meinen Fragebogen entgegengenommen hatte. »Frau Hansen ruft Sie gleich rein.«
Aha, dann würde es ja doch noch was werden mit der Beratung. Ich setzte mich brav auf den mir zugewiesenenStuhl und war von da aus in der Lage, die nächste Herausforderung der ARG E-Mitarbeiterin zu verfolgen.
»Ich muss wissen, wie viele Kinder Sie haben«, fragte sie den vierschrötigen Mann vor ihr. »Hier steht sechs, aber Sie haben gesagt fünf. Was stimmt denn nun?«
»Sechs Kinder«, sagte der Mann. »Aber ein in Karaganda.«
»Also eins von Ihren Kindern lebt nicht in Deutschland?«
»Ja. In Karaganda.«
»Gut. Und die anderen fünf Kinder, wohnen die noch bei Ihnen?«
»Noch vier. Anderer wohnt in Dortmund.«
»Vier Kinder wohnen noch bei Ihnen. Wie alt sind die denn?«
»Der Kleine ist fünf. Die Mädchen älter.«
Die Frau nickte. Sie betrachtete das wohl schon als Fortschritt. »Dann müsste ich mal wissen, wann ihre Kinder geboren sind.«
»Alle Kinder?«
»Ja sicher. Sagen Sie mir, wann Ihre Kinder Geburtstag haben.«
Der Mann starrte die Sachbearbeiterin an, als hätte sie von ihm verlangt, einen Kopfstand zu machen. »Das weiß ich nicht«, sagte er. Und zwar nicht verlegen, sondern eher verständnislos über so ein Ansinnen.
Und da machte ich mir Sorgen, weil ich nicht mehr wusste, in welchem Monat ich meine Abschlussprüfung gemacht hatte. Sofort fühlte ich mich wieder etwas besser. Obwohl
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