Alles auf Anfang Marie - Roman
Talkshow lief. Zwei Meter vor diesem Fernseher stand eine Couch, und darauf lag, in eine Decke eingewickelt, eine junge Frau. Sie hatte rot gefärbte Haare und zwei Lippenpiercings und starrte mich jetzt an, ohne mit der Fernbedienung in ihrer Hand den Fernseher abzuschalten oder wenigstens etwas leiser zu machen. Unter der Decke konnte man das zwar schwer beurteilen, aber sie sah etwas übergewichtig aus.
»Frau Nowakowski?«, rief ich über den Lärm hinweg. »Ich bin Marie Overbeck.«
Das schien ihr nichts zu sagen. Kein Schimmer des Erkennens war auf ihrem Gesicht zu sehen. »Ich bin die aus der Zeitung«, setzte ich hinzu.
Auch das löste nicht das erwartete Verständnis aus. Ich beschloss, ihr ein Stück näher zu kommen und erst mal die Blumen zu überreichen. »Ich hab gehört, Sie sind krank«, sagte ich.
Erstaunt nahm sie den Blumenstrauß. Und dann schrie sie unvermittelt »Nuala!«, so dass ich erschreckt zusammenzuckte.
Im hinteren Teil des Lofts waren drei Türen in einer vermutlich nachträglich eingezogenen Wand zu sehen. Eine dieser Türen öffnete sich, und ein etwa neunjähriges Mädchen streckte den Kopf hervor. Sie hatte lockige dunkle Haare und eine olivfarbene Haut, ein völliganderer Typ als der blonde Kevin, der mir das Ganze eingebrockt hatte. »Ja?«
»Wir haben Besuch!«, brüllte die Frau auf der Couch, aller Wahrscheinlichkeit nach Frau Nowakowski, »und jetzt stell mal die Blumen ins Wasser!«
Das Mädchen kam näher und betrachtete mich schweigend. Wenn sie es schaffte, erwachsen zu werden, ohne die Figur ihrer Mutter zu bekommen, würde sie mal eine Schönheit.
Verständnislos nahm sie die Moosröschen, die ihre Mutter ihr hinhielt. »Was soll ich damit?«
»Such mal ’ne Vase und mach da Wasser rein«, befahl Frau Nowakowski.
»Vase?«
»Irgendwas«, sagte ihre Mutter.
Nuala begab sich in einen Bereich jenseits des Fernsehers, wo sich eine aus unterschiedlichen Elementen zusammengestoppelte Küchenzeile befand. Türme von benutztem Geschirr markierten, wo sich ungefähr die Spüle befand. Ratlos kramte Nuala dort herum und griff schließlich nach einer Art Rührschüssel, in die sie Wasser laufen ließ und die Rosen etwas unzeremoniell hineinstopfte. »So?«, fragte sie.
Die Frau im Blumenladen hatte mich zwischen drei verschiedenen Gräsern oder Schleierkraut wählen lassen und jede Rose einzeln ausgesucht und liebevoll in den Strauß eingebunden. Sie würde heulen, wenn sie sähe, was jetzt mit ihrem Kunstwerk geschah. Immerhin brachte das Mädchen ihr Arrangement zu uns herüber und ließ es nicht in der Spüle stehen. Sie platzierte die viel zu große Schüssel, in der nun der Blumenstrauß etwas haltlos badete, auf dem Fußboden neben ihrer Mutter und schlurfte wieder davon.
»Jetzt hör aber mal auf mit dem Gameboyspielen«, gabihr ihre Mutter mit auf den Weg. Immerhin, stellte ich fest, waren manche Dinge gleich. Der Spruch hätte auch von mir kommen können.
»Ich hab doch Ferien«, schmollte das Mädchen, sah mich noch einmal prüfend von oben bis unten an und verzog sich wieder in ihr Zimmer.
Ich stand bis jetzt immer noch mitten im Raum. Niemand hatte mich aufgefordert, Platz zu nehmen. Also beschloss ich, die Sachen von dem am wenigsten belegten Sessel zu entfernen – ich legte vorsichtig mehrere Kleidungsstücke und ein paar Spielsachen auf den nächsten Sessel – und mich zu setzen.
»Frau Nowakowski«, bat ich und wies auf den Fernseher. »Könnten wir das mal für einen Moment leiser stellen?«
Sie nahm die Fernbedienung und stellte den Ton ab, so dass sich die Talkshow-Gäste nun lautlos weiterstreiten mussten. »Sie sind von der Zeitung?«
»Nein, ich komme wegen des Artikels in der Zeitung«, sagte ich. »Die Spendenübergabe im Kindergarten.«
»Wir kriegen keine Zeitung«, teilte sie mir mit. Ach so.
»Ich war am Montag im Kindergarten und habe Ihrem Sohn Kevin sechs Euro geschenkt für den Zoo.«
Abrupt veränderte sich ihre Miene von neugierig zu feindselig. »Sie sind das?«, fragte sie mit blitzenden Augen. »Hören Sie, wir haben vielleicht nicht viel Geld, aber das ist noch lange kein Grund, sich an meine Kinder ranzumachen. So was gibt’s bei mir nicht.«
»Ich wollte mich nicht an ihr Kind ranmachen«, verteidigte ich mich. »Er hat mir leidgetan. Er saß da und weinte, weil er das Geld nicht hatte, und dann habe ich es ihm gegeben.«
»Ach ja?«, funkelte sie mich an. »Und dann haben sie ihn gewaschen und ihm gesagt, er
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