Alles auf Anfang Marie - Roman
Fall!«, versprach ich ihr. »Ichmuss nur kurz etwas regeln, und das kann ich erst nach vier Uhr.«
»Na gut«, sagte sie. »Ich hab dich übrigens in der Zeitung gesehen. Nettes Foto. Der Anzug, den du da anhast, ist das Calvin Klein?«
Ich verdrehte die Augen. Alle hatten das Foto gesehen. Aber sie ahnten nicht, in welchen Stress mich das gebracht hatte. »Ich glaube nicht«, sagte ich. »Soweit ich weiß, hab ich den Anzug in dieser Boutique in Bredenscheid gekauft.«
»Dann wohl eher nicht«, meinte Hilde. »Jedenfalls hattest du den doch auch auf Margots Geburtstagsfeier an, oder?«
Mit anderen Worten: zwei Mal innerhalb der letzten vier Wochen. Ich sah an mir herunter. Dann müsste ich mich wohl noch mal umziehen. Wieso lässt man sich von seinen eigenen Freundinnen unter Druck setzen, statt unangefochten das zu tun, was man selbst für richtig hält?
Ich wanderte ins Schlafzimmer und begutachtete mal wieder meinen Fundus. Wenn man gute drei Meter Kleiderschrank zur Verfügung hat, dann besitzt man doch bestimmt genug Klamotten. Trotzdem fand ich es immer schwierig, das Passende für den jeweiligen Anlass zu finden.
Wenn ich die Anzughose durch den kurzen Rock ersetzte, der zu der Jacke passte, dann müsste ich andere Schuhe anziehen. Und Strümpfe, es sei denn, ich rasierte mir noch rasch die Beine, ohne mich wie meistens dabei zu schneiden. Da ich wegen meines Besuchs bei Frau Nowakowski aber schon kribbelig genug war, hielt ich das für unwahrscheinlich.
Also Strumpfhosen, obwohl es dafür eigentlich zu warm war. Auf Hildes Terrasse würde ich ziemlich leiden. Insofern war es vielleicht klüger, die leichte Leinenhoseanzulassen und dazu ein anderes Oberteil anzuziehen? Alle Jacken, die ich probierte, sahen irgendwie doof aus. Dann gab es noch einen leichten Baumwollpullover, der aber einen unübersehbaren Fleck hatte – wieso war mir der nicht aufgefallen, als ich den Pulli in den Schrank räumte?
Weil es immer später wurde, beschloss ich schließlich, doch den Anzug wie ursprünglich geplant anzulassen und mich unterwegs schon mal gegen Hildes diesbezügliche Kommentare zu stählen. Ich war über fünfzig, zum Kuckuck, da musste ich mich doch nicht mehr einem Gruppenzwang unterwerfen wie Lotta in der Mittelstufe, wo es immer eine Gratwanderung war, was man anzog – es durfte nicht genau das sein, was die Trendsetter trugen, aber zu sehr davon abweichen durfte es auch nicht. Im Flurspiegel sah ich mich noch mal kritisch an und stellte fest, dass mir dieser Anzug gut stand. Und da war es doch sinnvoller, zehnmal etwas anzuziehen, was gut aussah, als immer verschiedene Sachen, die alle irgendwie ihre Defizite hatten.
Inzwischen war es schon kurz vor vier. Ich sprang ins Auto und fuhr zu einem Blumengeschäft, wo ich ein geschmackvolles Gebinde für Hilde und einen kleinen Strauß mit Moosröschen für Frau Nowakowski erstand. Und dann stellte ich fest, dass ich den Zettel mit der Adresse zu Hause auf dem Küchentisch liegen gelassen hatte.
Das war an sich nicht weiter schlimm, weil ich mir die Adresse »Hammerweg 35« schon eingeprägt hatte. Aber als ich dort ankam, stellte sich heraus, dass ich in einer Art Industriegebiet war, und die Nummer 35 war ein älteres Backsteingebäude, in dem sich offensichtlich ein Handwerksbetrieb befand. Hatte ich mich vertan und es war eigentlich Nummer 53? Die gab es nicht, merkte ich recht schnell. Nummer 33 war ganz offensichtlichunbewohnt, mit einer mit Holzbrettern vernagelten Tür und mehreren Löchern in den dreckigen Fensterscheiben. Und weit und breit kein Mensch auf der Straße, den man hätte fragen können.
Ich stellte also das Auto vor der Nummer 35 ab und inspizierte das Gebäude genauer. An der Vorderfront gab es eine Laderampe, deren Zugang aber geschlossen war. Ein relativ neues, aber nicht besonders auffälliges Schild besagte mit Hilfe eines Pfeils, dass es zu »HH Beschriftung und Beschilderung« um die Ecke ging.
Dort hörte ich Stimmen. Immerhin gab es hier also Menschen, und wo Menschen waren, könnte man sicher auch Informationen bekommen. Ich rief mal testweise: »Hallo?«
»Wenn das jetzt der Kurier ist, dann erschlag ich ihn«, hörte ich eine ärgerliche Männerstimme sagen. Ich zog schon mal den Kopf ein für den Fall, dass er mich mit dem Kurier verwechseln würde. Dann wurde seitlich am Gebäude eine Tür aufgerissen, und ich stand vor einem sehr finster dreinblickenden Mann.
»Ich bin nicht der Kurier!«, sagte ich
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