Alles auf Anfang Marie - Roman
bei uns aufgetaucht waren. Eigentlich hat er nämlich ein weiches Herz. Aber mir aus der Entfernung warnende Ratschläge zu geben, war auch einfacher, als in dieser verwahrlosten Wohnung zu stehen und so zu tun, als ginge einen das nichts an.
»Wann ist eigentlich diese Einschulung?«, wollte er wissen.
»Morgen in vierzehn Tagen.«
»Also Dienstag? Es ist nämlich so … An dem Mittwoch muss ich in die USA fliegen. Nach Boston. Hast du Lust mitzukommen? Wir könnten das Wochenende dranhängen und Cathy besuchen.«
Henning weiß, womit er mich reizen kann. Während viele andere Geschäftsreisen für mich völlig uninteressant sind, ist die Erwähnung von Cathy ausreichend, um mich zu begeistern. Sie war vor einigen Jahren als Austauschschülerin bei uns, und auch wenn der Kontakt sich auf einige E-Mails im Monat beschränkt, haben wir doch regelmäßig Verbindung miteinander.
»Das wäre toll«, sagte ich. »Lass mich nur eben schauen, was da für Termine sind. Ich weiß, ich habe in nächster Zeit ein paar Sachen im Kalender stehen.«
»An dem Samstag sind wir zu Hannos Geburtstag eingeladen«, wusste er. »Aber das sagen wir ab. Kein Problem.«
Ich blätterte in meinem Kalender. »Krebsvorsorge …ist schon diese Woche. Die Einschulung ist noch rechtzeitig vorher … Und der Termin beim Arbeitsamt fällt da auch nicht rein.«
»Termin beim Arbeitsamt? Sag bloß, da schleppt diese Frau dich auch noch hin?« Jetzt klang er wieder grimmig.
»Nein, der ist für mich«, sagte ich. »Ich war neulich da und wollte mich erkundigen, was ich für Chancen habe, einen Job zu finden.«
Ui, da hatte ich mal wieder nichtsahnend in ein Wespennest gestochen. »Da kommst du nicht mal auf die Idee, mit mir darüber zu reden? Glaubst du nicht, das würde mich auch interessieren?«
»Ich dachte nicht, dass es so wichtig ist«, sagte ich vorsichtig. »Und das war auch ziemlich spontan.«
»Marie, du bist ein strukturierter Mensch«, sagte er mit Ärger in der Stimme. »Bei dir sind auch spontane Handlungen besser durchdacht als bei vielen anderen Leuten. Deswegen erzähl mir nicht, du hättest keine Gelegenheit gehabt, mir davon zu berichten. Oder sollte es eine Überraschung sein?«
»Nein, natürlich nicht. Es ist nur … Diese ganze Geschichte mit den Nowakowskis hat mich vielleicht mehr in Anspruch genommen als gedacht, deshalb ist das ein bisschen in den Hintergrund gerückt.«
Das beruhigte ihn auch nicht wirklich. Stattdessen hielt er mir Vorträge darüber, dass ich in letzter Zeit immer Dinge tat, die er nicht gut fand, statt zusammen mit ihm zu überlegen, was ich Sinnvolles machen könnte. »Jetzt hättest du die Chance, noch mal ganz ohne Einschränkung durchzustarten«, sagte er. »Marie, wir brauchen kein zweites Gehalt, ganz abgesehen davon, dass du vermutlich sowieso nichts findest, was gut bezahlt wird. Und wieso willst du dich für ein paar lausige Euros wieder in diese Tretmühle begeben? Du siehst doch geradean diesem Amerika-Trip, dass dich das wieder total einschränken würde.«
»Ich habe ja darüber nachgedacht«, argumentierte ich. »Aber ich weiß nicht, ob Töpferkurse oder Yogastunden mich so ausfüllen würden.«
»Es gibt sicher mehr als das.«
»Ja«, sagte ich. »Zum Beispiel Familien, in denen das Chaos herrscht. Und eine davon braucht mich.« Inzwischen war ich auch ein wenig in Fahrt gekommen. »Henning, siehst du denn nicht, dass das so sein sollte? Dass ich da reingerutscht bin und dann beschlossen habe, nicht einfach die Augen zuzumachen und zu gehen? Du triffst jeden Tag wer weiß wie viele Entscheidungen, von denen ich nicht mal was weiß, geschweige denn, dass du mich vorher deswegen konsultierst. Glaubst du nicht, dass ich das auch mal tun kann?«
»Meine Entscheidungen haben keine Auswirkungen auf dein Leben«, hielt er dagegen. »Die betreffen meinen Job. Während ich schon davon betroffen bin, was du tust.«
»Ach ja? Du bist doch die halbe Zeit gar nicht hier! Es kann dir doch eigentlich egal sein, was ich mache, solange du deine Wäsche gemacht bekommst und auch sonst alles funktioniert! Könnte es nicht eher sein, dass du nicht magst, wenn die Dinge nicht deiner Kontrolle unterliegen?«
Klar, dass er jetzt schnaubend Widerspruch einlegte. Vermutlich war er durch das Stückchen Wahrheit in meiner Behauptung erst recht angepiekst. »Jetzt bitte ich dich aber! Willst du mir etwa unterstellen, dass ich so ein Kontrollfreak bin, der dich völlig
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